Buch

Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 21 (1997)

Alte Musik im 19. Jahrhundert

Peter Reidemeister (Hg.)

  • Reihe/Serie
    Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis
  • Band
    21
  • Ort
    Winterthur
  • Verlag
    Amadeus
  • Jahr
    1998
  • ISBN
    978-3-905049-78-7
  • Typ
    Buch
Schlagwörter

Rezeption; Alte Musik; historische Musikinstrumente;

I. ALTE MUSIK IM 19. JAHRHUNDERT

Ernst Lichtenhahn : "Klassisch" und "Romantisch". ein Denkmodell des frühen 19."Jahrhunderts zur Bestimmung "alter" Musik 
Klassisch und Romantisch bilden um 1900 ein kunst- und literaturästhetisches und zugleich geschichtsphilosophisches Begriffspaar. Die historischen Felder werden dabei in grossen Dimensionen verstanden: Klassisch steht für griechisch, antik, heidnisch; romantisch im weiten Sinne für modern, abendländisch, christlich. In diesem Sinne wird das Begriffspaar von A.W Schlegel und E.T.A. Hoffmann auch auf die Musik angewandt. Da die Begriffe zu jener Zeit aber zugleich auf geschichtsübergreifende Wesensbestimmungen ausgerichtet sind, begegnen sie in vielfältigen, historisch-chronologisch immer wieder neu definierten Konstruktionen, so etwa in der Entgegensetzung älterer Volksmusik und neuer Instrumentaltechniken. Insgesamt zeigt dieses Musikdenken das Bestreben, das Vergangene als "Altes" und zugleich in die Gegenwart Hineinwirkendes zu verstehen.

Martin Geck : Moritz Hauptmanns Bearbeitung des Actus Tragicus BWV 106 
Durch den Bach-Sammler Fischhof ist die Bearbeitung einer im 19. Jahrhundert beliebten Bachkantate, des Actus Tragicus BWV 106, durch den Thomaskantor Moritz Hauptmann auf uns gekommen. Der vorliegende Beitrag will mit dem Vorurteil aufräumen, solche Bearbeitungen seien damals serienmässig und leichtfertig hergestellt worden. Deutlich wird, dass Hauptmann in den Notentext nur eingreift, um Bach den Hörern seiner Zeit nahebringen zu können. Er ersetzt in seiner 1844 erstaufgeführten Bearbeitung die ungebräuchlich gewordenen Blockflöten und Gamben durch Rohrblattinstrumente; den "zopfigen" Generalbasspart instrumentiert er aus - je nach Situation sparsam oder mit kleinen Gegenthemen und der Tendenz zu sinfonischem Klang. Das Werk erscheint in neuer, jedoch durchaus ansprechender Gestalt. 

Janina Klassen: Fuge als Walzer. Zur pianistischen Bach-Rezeption von Czerny, Schumann, Chopin 
In der Vorstellung eines "neuen poetischen Zeitalters" (Schumann) in den 1830er Jahren gelten Fuge und Kontrapunkt als Inbegriff von Phantasielosigkeit. Auf der Suche nach neuen kompositorischen Konzepten entdecken die Künstler nun Bachs Wohltemperiertes Klavier. Seine spiel- und satztechnisch ungewohnten Partituren zeigen, dass der gebundene Stil keineswegs trocken, lust- und gefühllos ist, sondern für die Romantiker "poetische" Qualitäten enthält. Diese Interpretation von Bach als modernem Zeitgenossen dokumentiert Czernys Ausgabe von 1837. Der innovative Impuls für den modernen Einsatz von Mehrstimmigkeit in der romantischen Klaviermusik wird von Schumann auch theoretisch reflektiert und zeigt sich besonders bei Chopin, dem musikalischen "Genie" dieser neuen Zeit. 

John P. MacKeown : Gradus ad Parnassum. Beethovens Kontrapunkt nach Fux 
Beethoven studierte in seinen ersten Wiener Jahren bei J. Haydn und J. G. Albrechtsberger Kontrapunkt nach Gradus ad Parnassum von Johann Joseph Fux. Stilistisch ist diese Kontrapunktlehre an einer Renaissance-Vokalpolyphonie (Palestrinas) orientiert. Wie weit wirkte eine solche durch Fux vermittelte prima prattica in eine seconda prattica von Beethovens eigenem Komponieren fort? Eine Untersuchung erhaltener Unterrichtsmaterialien und Kompositionskizzen führt zu einer Analyse exemplarischer Sätze aus opera 23, 59 Nr. 2 und 132. Diese vergegenwärtigt, dass eine Tradition, Integration und Transformation der Fux'schen Kompositionslehre bis in Beethovens Spätwerk relevant blieb.

Markus Jans : Zur Rezeption der Alten Musik in Theorie und Komposition. Beobachtungen an Beispielen vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert 
Was hat Beethoven bezüglich Klangverbindung von der alten Musik direkt oder - vermittelt durch Lehrer und Lehrgebäude - aufgenommen? Und wie nimmt sich Beethovens Umgang mit seinem historischen Erbe im Lichte der späteren Theorie aus, insbesondere aus der Sicht der grossen Systematiker Riemann und Schenker? Antworten auf diese Fragen werden skizziert anhand einer Gegenüberstellung von verschiedenen Analysen der ersten sechs Takte der Einleitung zum zweiten Satz der Waldsteinsonate, op. 53. 

Ralf Wehner : "Ich sehe sie nun zugleich alle durch und lerne sie kennen." Felix Mendelssohn Bartholdy und die wirklich alte Musik 
Diese Abhandlung ist einem Ausschnitt aus der Vergangenheitsrezeption Felix Mendelssohn Bartholdys gewidmet. Sie versucht, Fragen nach dem Verhältnis Mendelssohns zu derjenigen Musik zu stellen, die etwa fünf Generationen vor ihm entstanden war, zu einer Musik also, die für ihn im selben zeitlichen Ausmass "alt" war wie für uns Heutige seine Kompositionen. Das Zentrum der bisherigen Sekundärliteratur bildete - bezogen auf Mendelssohn - mit gewissem Recht die Darstellung seines Verhältnisses zu Bach und Händel, aber hatte der Komponist auch einen Sensus für die ganz alte Musik? Ausgehend von der Frage, wo und durch wen Mendelssohn Werke alter Meister kennengelernt hatte, wird in einem zweiten Teil anhand ausgewählter Kompositionen beleuchtet, wie sich Mendelssohns Kenntnis alter Musik im eigenen Schaffen widerspiegelt. Abschliessend wird auf einige Aktivitäten für die Wiederbelebung älterer Musikwerke eingegangen. 

Roland Moser: Unitonie - Pluritonie - Omnitonie. Zur harmonischen Gedankenwelt der Via crucis von Franz Liszt 
Die drei (eigentlich vier) Begriffe von Fétis "ordre unitonique, (transitonique), pluritonique, omnitonique" - Liszt erwähnt sie über Jahrzehnte hinweg - klassifizieren die Entwicklung des harmonischen Satzes von der Renaissance bis gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts. Vielleicht in der Absicht, eine Kirchenmusik zu schaffen, die sich aus zeitbedingten "Stilepochen" heraushebt, indem sie - von ältesten Traditionen ausgehend - unter Einbezug liturgischer Musik verschiedener Konfessionen und Zeiten sich so weit wie möglich in die Zukunft öffnet, verbindet Liszt in der Via crucis Satzeigenheiten verschiednener Epochen. Er stellt sie nicht nur einander gegenüber, sondern lässt sie einander durchdringen und weist mit seiner Musik weit über das hinaus, was an harmonischen und formalen Möglichkeiten im Blickfeld seiner Zeitgenossen gelegen hat. Die Rezeptionsgeschichte des Werkes ist deshalb auch noch recht kurz. 

Annette Landau: "Was im Lauf der Zeiten vorübergegangen, kann nie vollkommen wiedergeboren werden." Friedrich Rochlitz und die Alte Musik 
Um 1800 verändert sich das Verhältnis zur Musik vergangener Zeiten auch in der Musikgeschichtsschreibung. Dieser Prozess wird eingeleitet durch die Allgemeine musikalische Zeitung und ihren Herausgeber Friedrich Rochlitz. Anhand des Umgangs mit einzelnen Komponisten (Händel / Bach) lässt sich das spezifische Interesse an Alter Musik darstellen: Durch sie soll das kompositorische Handwerk in die eigene Zeit des gefährlich dominierenden Genie-Gedankens zurückgeholt werden. Zu diesem Zweck instrumentalisiert Rochlitz Mozart einerseits, indem er nachweist, dass auch dieses Genie erst durch das Studium Bachscher Musik seine Meisterwerke schuf. Andererseits gelingt Rochlitz rhethorisch die Umwandlung des Zeitgenossen Mozart zu einem Komponisten ewig bedeutender Musik: zu einem Komponisten Alter Musik. 

Annegret Rosenmüller: Carl Ferdinand Becker (1804-1877) und sein Wirken für die Musik des 16. und 17. Jahrhunderts 
Carl Ferdinand Beckers vielfältiges Wirken u. a. als Musiksammler, Organist, Musikschriftsteller und -bibliograph, Herausgeber zahlreicher musikalischer Werke und Mitarbeiter an der Schumannschen Neuen Zeitschrift für Musik war durchgängig von dem Bemühen geprägt, Musik der Vergangenheit, d. h. insbesondere des 16. und 17. Jahrhunderts, wieder in das Blickfeld seiner Zeitgenossen zu lenken. Seine umfangreiche, in ca. 35 Jahren zusammengetragene Bibliothek, die ihm als Grundlage für seine Bestrebungen diente und in der Kompositionen und Theoretika jener Zeit einen Schwerpunkt bilden, wurde schon zu seinen Lebzeiten zu einem Anziehungspunkt für Musikgelehrte und -sammler wie beispielsweise Siegfried Wilhelm Dehn, Gottlieb Freiherr von Tucher, Carl von Winterfeld, Ludwig Erk und Franz Hauser. 1856 stiftete Becker seine Sammlung der Stadtbibliothek Leipzig, in deren Besitz sie sich auch heute noch befindet. Das Wissen um die nicht zu unterschätzenden Verdienste Beckers hinsichtlich der Wiederbelebung vergessener Musikkultur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Leipzig unterstreicht die Bedeutung dieser Stadt als ein Zentrum diesbezüglicher Bemühungen, welche nicht nur von Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann wesentlich mitgetragen wurden. 

Florence Gétreau: Alte Instrumente im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Die Rolle des Conservatoire und private Initiativen 
Auch wenn die Praxis der alten Musik in Frankreich zwischen der Französischen Revolution und dem Ende des 19. Jahrhunderts für einige Zeit unterbrochen war, so riss das Interesse für alte Instrumente während des ganzen Jahrhunderts nicht ab. Denkmalpflegerisches Bewusstsein ist zuerst bei den Gründern des Conservatoire belegt. Während aber ein in diesem Rahmen institutionalisiertes Projekt nur mit Mühe realisiert werden konnte, begannen viele Amateure aus unterschiedlichen Interessenlagen heraus Instrumente zu sammeln. Die ersten wirklich auf alte Instrumente spezialisierten Sammlungen sind um 1840 belegt. Dank der Initiative des Komponisten Clapisson wurde 1861 ein erstes öffentliches Museum gegründet. Aber erst zu Beginn der 80er Jahre begannen Sammler, Restauratioren, Instrumentenbauer und Musiker, mit den historischen Instrumenten zu experimentieren und alte Musik auf zeitgenössischem Instrumentarium zu spielen. Damals entstand ein neuer Sammlergeist, der den Weg ebnete für die grossen Sammlungen und die historischen Ensembles des 20. Jahrhunderts.

II. BIBLIOGRAPHIE DER NEUERSCHEINUNGEN ZUR HISTORISCHEN MUSIKPRAXIS 1995/96, ZUSAMMENGESTELLT VON DAGMAR HOFFMANN-AXTHELM, 227-329