Buch

Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 20 (1996)

Virtuosität und Wirkung in der Musik

Peter Reidemeister (Hg.)

  • Reihe/Serie
    Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis
  • Band
    20
  • Ort
    Winterthur
  • Verlag
    Amadeus
  • Jahr
    1997
  • ISBN
    978-3-905049-75-6
  • Typ
    Buch
Schlagwörter

Virtuosität; Improvisation; Ausbildung

I. VIRTUOSITÄT UND WIRKUNG IN DER MUSIK

David Fallows: Das Ende der Ars subtilior
Man geht im allgemeinen davon aus, dass die Tradition der Ars subtilior mit dem frühen 15. Jahrhundert abgeschlossen war, aber ihre Techniken boten für die Theoretiker der nächsten 200 Jahre noch Diskussionsstoff. Darüber hinaus ist eine kleine, aber offenkundig stilistisch miteinander verbundene Anzahl von Werken überliefert, in denen diese Techniken zur Anwendung kommen: Stücke von Ugolino von Orvieto, Hugo de Lantins, Dufay, Bedyngham, Hothby, Tinctoris und anderen stellen ein direktes Verbindungsglied zwischen der Ars subtilior und zahlreichen Beispielen für mensuralen Manierismus im 16. Jahrhundert dar. Besondere Aufmerksamkeit wird denjenigen manieristischen Stücken gewidmet, die in John Baldwins "Commonplace book" überliefert sind, einem Sammelbuch, das in den 1590er Jahren in England kopiert wurde.

Thomas Drescher: "Virtuosissima conversazione". Konstituenten des solistischen Violinspiels gegen Ende des 17. Jahrhunderts
Die süddeutsch-österreichischen und mitteldeutschen Violinvirtuosen des ausgehenden 17. Jahrhunderts (Schmelzer, Biber, Walther, Westhoff u.a.) waren eingebettet in eine Aufführungskultur, in der der höfische Kontext für die Präsentation des virtuosen Solospielers von zentraler Bedetung ist. Die sozialen Strukturen lassen sich bis in Strichregeln hinein verfolgen (Georg Muffat). Die Stellung des Virtuosen und seine Präsentation werden vor allem an Hand von überlieferten biographischen Daten Johann Heinrich Schmelzers exemplifiziert. Einige handschriftlich fixierte Violinsonaten zeigen, wie jeder Spieler sich sein eigenes Repertoire schuf, in der Praxis offenbar nicht selten auf der Basis von Kompositionen eines Kollegen. In der Organisation der Musik lassen sich tradierte Vortragsmuster einerseits nachweisen sowie die grosse Bedeutung spontaner improvisatorischer Praktiken im Moment der Aufführung. Unter diesen Aspekten zeigen selbst gedruckte Werke noch starke Elemente usueller Vortragstechniken, die ganz auf die Interaktion von Spieler und Publikum angelegt waren.

Erich Reimer: Der Begriff des wahren Virtuosen in der Musikästhetik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts
Ausgehend von den Forderungen der Ausdrucksästhetik ist der Begriff des Virtuosen im deutschen Musikschrifttum des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts erörtert und vom umgangssprachlichen Virtuosenbegriff abgegrenzt worden. Mit dem Begriff des wahren Virtuosen wurde die Forderung nach einer Synthese von Technik und Ausdruck verbunden. Kritisiert wurde nicht musikalische Technik als solche, sondern deren Loslösung vom Ausdrucksprinzip. Virtuosität als eine Technik und Ausdruck umfassende Fähigkeit sollte dementsprechend nicht Staunen und Verwunderung hervorrufen, sondern den Zuhörer emotional bewegen.

Robin Stowell: Nicolo Paganini – Violin Virtuoso in excelsis? 
Ausgangspunkt des Aufsatzes ist Jeffrey Pulvers Charakterisierung von Nicolo Paganini als dem "Violin-Virtuosen in excelsis," womit der Autor anregt, in dem italienischen Geiger die überragende Gestalt unter den zeitgenössischen und allen früheren Virtuosen zu sehen. Es wird untersucht, ob Pulvers Feststellung berechtigt ist und was es ggf. war, das Paganini gegenüber seinen Vorläufern und Zeitgenossen so sehr auszeichnete. Aspekte der Technik und des Vortrags werden ebenso betrachet wie einige Besonderheiten von Paganinis Körperbau und seine Weiterentwicklung vorhandener Techniken bis zu ihren äussersten Grenzen (z.B. Scordatura, Harmonisierung, Pizzicato, Strich etc.). Ferner wird Paganinis künstlerischen Zielen ebenso Rechnung getragen wie seinen Kompositionen, seinem Aussehen, seiner Persönlichkeit, seiner Bühnenpräsenz und anderen, Pulvers Charakterisierung entsprechenden Qualitäten. Schließlich werden Zeugnisse von Zeitgenossen genannt, z.B. von Franz Liszt, Hector Berlioz, Louis Spohr und François-Joseph Fétis.

Beatrix Borchard: Botschaften der reinen Kunst - Vom Virtuosen zum Interpreten. Joseph Joachim und Clara Schumann
Clara Schumann und Joseph Joachim haben gemeinsam, aber auch auf unterschiedliche Weise das Konzertleben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt. Als beispielhafter Interpret wurde Joseph Joachim 1869 nach Berlin berufen, um dort eine Musikhochschule aufzubauen. Nicht im spieltechnischen Sinne machte er Schule, aber im ästhetischen, im Verständnis von Kunst und der Rolle des Künstlers. - Clara Schumann hingegen konnte, auch wenn sie in späten Jahren eine Anstellung am Hochschen Konservatorium in Frankfurt am Main als Klavierlehrerin übernahm, nicht die Öffentlichkeit prägen, konnte als Frau keine Repräsentantin des Staates sein. Sie konnte weder wie Joachim die deutsche Instrumentalmusik, noch die Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs repräsentieren. So wurde sie denn, als sie im Jahre 1896 starb, unter dem Motto "welche Künstlerin diese Frau, welche Frau diese Künstlerin" nicht als schulbildend, sondern als einzigartige Erscheinung gerühmt.

Claudia de Vries: Virtuosität, Bravour und Poetik des Ausdrucks. Die Improvisatorin Clara Schumann-Wieck
Von Friedrich Wieck von allem Anfang an zur Universal-Virtuosin - d.h. in Vortragskunst, Komposition und "freyer Fantasie" - ausgebildet, konzentrierte sich Clara Wieck im Verlauf ihrer Karriere zunehmend (vor allem nach dem Tod Robert Schumanns) auf die reproduktive Aufgabe der Interpretation. Ihre Kompositionen bis ca. 1838 geben einen Einblick in ihre "fantasierende" Kompositionspraxis. Als Interpretin nutzte sie noch in hohem Alter - dies zeigen ihre unveröffentlichten "Vorspiele" zu Klavierwerken Robert Schumanns - die Improvisation als freie Vorbereitung auf die ernste Aufgabe der "werktreuen" Interpretation.

Martin Kirnbauer: "La haute gymnastique musicale" Apparate zur Ausbildung des Körpers am Klavier im 19. Jahrhundert
Wenn sie heute auch aus unserem Bild von der Musik des 19. Jahrhunderts fast verschwunden sind, so waren seinerzeit und noch bis in die Dreissiger Jahre unseres Jahrhunderts mechanische Übehilfen besonders für das Klavierspiel fester Bestandteil der Instrumentalpädagogik. Der Beitrag versucht, die Geschichte dieser technisch teilweise hochkomplexen Klavierspiel-Maschinen, ihre Hintergründe und Konsequenzen nachzuzeichnen. Deutlich wird dabei zweierlei: Erstens eine Abhängigkeit der Konstruktionen von jeweils vorherrschenden Modellen des menschlichen Körpers; zweitens ein Zusammenhang mit den gleichzeitig in Mode kommenden Virtuosen, die als Werbeträger dieser Apparate funktionierten.

Dagmar Hoffmann-Axthelm: David und Saul. Über die tröstende Wirkung der Musik
Musik - im besonderen Masse "wohlgeordnetes" Saitenspiel - kann einen durch ein schweres Gemüt belasteten Menschen trösten und dadurch heilkräftig auf seine Seele wirken. Dieser gedankliche Archetypus läßt sich schon bei den Sumerern belegen und findet in der jüdisch-christlichen Tradition mit der biblischen Geschichte vom jungen David, der mit seinem Kînôr-Spiel den gemütskranken Saul zu beruhigen sucht, eine Gestaltung von großer Ausstrahlungskraft. Durch die Jahrhunderte wird diese Erzählung in Malerei, Theologie, Medizin, Musiktheorie und musikalischer Praxis rezipiert und als Beleg für die Heilkraft der Musik angeführt. Ferner dient sie als Ausgangspunkt für Erörterungen, welche (theologischen oder musikalischen) Mittel die trostreiche Wirkung herbeiführen. Neben anderen Komponisten schrieben Kuhnau und Händel "Davids-Musik", die bei ganz unterschiedlicher stilistischer Ausrichtung gleichwohl die archetypischen Merkmale trostbringender Musik aufweist: rhythmisch, melodisch und harmonisch "geordnete" Saitenmusik.

II. BIBLIOGRAPHIE DER NEUERSCHEINUNGEN ZUR HISTORISCHEN MUSIKPRAXIS 1994/95, ZUSAMMENGESTELLT VON DAGMAR HOFFMANN-AXTHELM, 171-295