Buch

Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 30 (2006)

Wege zur Klassik

Dagmar Hoffmann-Axthelm (Hg.)

  • Reihe/Serie
    Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis
  • Band
    30
  • Ort
    Winterthur
  • Verlag
    Amadeus
  • Jahr
    2008
  • ISBN
    978-3-905786-05-7
  • Typ
    Buch

I. WEGE ZUR KLASSIK

Dagmar Hoffmann-Axthelm: Bildbetrachtung. Carl Johann Arnold. Quartettabend bei Bettine von Arnim (entstanden zwischen 1854 und 1856)

Peter Gülke: Wege und Umwege zur klassischen Musik. Ein Plädoyer gegen zuviel Selbstverständlichkeit
Die Sichtweise der "Kunstepoche Klassik" im Sinne eines Vollendeten, Abgeschlossen wird aus unterschiedlichen Perspektiven problematisiert: Aus derjenigen der "Erben", etwa Schuberts, Mendelssohns, Schumanns, Chopins, deren "Wege zur Klassik" - angesichts z.B. des alle Folgenden überwältigenden Oeuvres von Beethoven - zunächst eher Um- Seiten- oder Ausweich-Wege waren; aus derjenigen der "Klassiker" selbst, zu deren Lebenszeit sich das Musikleben, die Instrumente, der Orchester-"Apparat" und damit auch die Aufführungspraxis in einer Weise veränderten, dass die Komponisten, wollten sie bei Publikum und Kritik ankommen, reagieren mussten und dies auch taten; aus der historisch informierten Gegenwart, die es genau nimmt mit der Aufforderung "Zurück zu den Quellen" und die angesichts des beständigen Wandels zu zeitgenössischer, nicht aber zu "klassischer" Authentizität gelangt. 

Clive Brown: Performiung classical repertoire. The unbridgeable gulf between contemporary practice and historical reality
Viele Autoren von Traktaten des 18. und 19. Jahrhunderts heben hervor, dass schriftliche Beschreibungen von musikalischen Aufführungen nicht ausreichen, um die vielen Feinheiten, die eine gute Darbietung von einer nur korrekten unterscheiden, zu vermitteln. Ihnen zufolge bestand die einzige Möglichkeit, diese Kenntnis zu erlangen, darin, einem vollendeten Künstler zuzuhören. Obwohl es nicht möglich ist zu wissen, wie eine Aufführung der Werke von Mozart, Beethoven und ihrer Zeitgenossen wirklich geklungen hat, wurden die Werke klassischer Meister mehr und mehr von der so genannten Historischen Aufführungspraxis mit Beschlag belegt. 

Anselm Gerhard: "Longues durées" oder plötzliche Umbrüche? Gab es eine "klassische" Aufführungspraxis zwischen "Barock" und "Romantik"? 
Ohne Periodisierungen ist Geschichtsschreibung nicht möglich, auch wenn diese für fliessende Übergänge besonders sensibel sein sollte. Bisher kaum reflektiert ist die Frage, ob es sinnvoll ist, die aus kompositionsgeschichtlichen Beobachtungen abgeleiteten Epochengrenzen auch für die musikalische Aufführungspraxis zu verwenden. Damit verbunden ist die Frage, ob es bei der Durchsetzung aufführungspraktischer Neuerungen überhaupt plötzliche Umbrüche gegeben hat, ob nicht aus dem 18. bis ins 20. Jahrhundert reichende "longues durees" viel prägender gewesen sind. Aufführungspraktische Detailstudien weisen immer wieder auf ein höchst widersprüchliches Neben- und Durcheinander verschiedenster Spielweisen zur gleichen Zeit. Einiges scheint dafür zu sprechen, dass erst der Zusammenbruch des alten Europas im Ersten Weltkrieg und die gleichzeitige Durchsetzung moderner Reproduktionstechniken dazu geführt haben, dass diese Buntscheckigkeit von eindeutigeren Standards abgelöst wurde. An Stelle der Denkfigur von Umbrüchen könnte so die Kategorie der Standardisierung möglicherweise präzisere Dienste leisten, gerade auch im Rückblick auf erste Standardisierungsversuche im Zusammenhang mit der Gründung des Pariser Conservatoire. 

Anselm Hartinger: Kompositionskunst und Rezeption - Bachs Weg zum musikalischen Klassiker 
Bachs Einordnung und Apostrophierung als musikalischer Klassiker begann um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und damit zeitgleich zur Etablierung jenes neuzeitlichen Kanons "klassischer" Werke und Komponisten, der über die blosse Musterhaftigkeit hinaus erstmals im Sinne einer dauerhaften ästhetischen Gegenwart gemeint war. Dieser Prozess trug im Falle Bachs zwar Züge einer selektiven "Wiederentdeckung" und partiellen Uminterpretation, er kann jedoch nicht allein als Phänomen der Rezeptionsgeschichte verstanden werden. Ebenso beschränkt sich die Ausstrahlung seiner Musik auf kommende Generationen nicht auf einzelne nachweisbare Übernahmen und strukturelle "Vorläufermodelle". Die Analyse von Beispielen aus Bachs Kompositionen ermöglicht es vielmehr, Kriterien zu ermitteln, die die Klassizität seiner Musik im Werk selbst verankern. Das darin verwirklichte Ideal einer musikalischen Vollkommenheit im Sinne umfassender Ausschöpfung der Möglichkeiten des Materials und einer dialektischen Synthese aller Stilebenen, Techniken und Vorbilder geht der Wiener Klassik nicht nur zeitlich voraus, es kann auch - unabhängig von den stilistischen Präferenzen späterer Diskutanten - als normbildender Hintergrund aller künftigen Diskurse zur Klassizität von Musik verstanden werden. 

Federico Celestini: Aspekte des Erhabenen in Haydns Spätwerk
Die Diskussion um das Erhabene prägte den ästhetischen Diskurs im 18. Jahrhundert und wirkte auf die Musikproduktion und -rezeption der Zeit. Sie wurde 1674 durch Boileau-Despreaux' französische Übersetzung des Traktats des Pseudo-Longin De sublimitate in Gang gesetzt, regte Erneuerungen in der Literatur der jeweiligen Nationalsprache an und führte zu einer neuen Einschätzung der biblischen Überlieferung als eines dichterischen Textes, bevor Edmund Burke das Erhabene dem Schönen entgegensetzte und Immanuel Kant es gegen die rhetorische Tradition wendete. Die erhabene Poetik der Verwunderung, der Erschütterung und des Schreckens lieferte Kategorien zur ästhetischen Konnotation von Instrumentalmusik, insbesondere der Symphonie, sowie 'Vorstellungen, die bei der Komposition von Oratorien, Kirchenmusik und Opern in einzelnen Nummern und Szenen, oft auch in der Gesamtkonzeption umgesetzt wurden. Auf die Musik Haydns und Mozarts angewendet, führt sie zur Dekonstruktion der traditionellen Dichotomie von Klassik und Romantik und zur Aufwertung der rhetorischen Kategorien der Plötzlichkeit und der Überraschung, die von der Kantschen Kritik der Urteilskraft aus der Kunst und in deren Nachfolge von der idealistischen Philosophie aus der Ästhetik getilgt wurden. 

Jan Assmann: Die Zauberflöte im kulturellen Kontext. Chancen und Grenzen eines kulturwissenschaftlichen Zugangs 
Mozarts und Schikaneders Oper Die Zauberflöte ist ein Meilenstein nicht nur der Operngeschichte, sondern auch der Ägyptenrezeption. In ihr kulminiert die für das späte 18. Jahrhundert charakteristische Ägyptenfaszination, der es noch nicht, wie einige Jahrzehnte später, um das historische Ägypten, sondern um die ägyptischen Mysterien und ihre Wiederbelebung in den Logenritualen der zeitgenössischen Geheimgesellschaften ging. Die Zauberflöte steht natürlich, wie andere Opern auch, in verschiedenen Kontexten. Da ist zum einen die Tradition des Wiener Volkstheaters im Allgemeinen und die Geschichte Schikaneders als Autor, Schauspieler und Theaterdirektor im Besonderen; zum anderen geht es hier um die Erforschung der zahlreichen literarischen Quellen, die in das Libretto eingegangen sind. Eine ganz andere Art von Kontext oder geistiges Umfeld dieses Werkes aber bildet die Wiener Freimaurerei und ihre Faszination durch die antiken Mysterien. Von daher erschliessen sich nicht nur manche der bis heute rätselhaft gebliebenen Eigentümlichkeiten des Handlungsaufbaus; vielmehr lässt auch die einzigartige "Vielsprachigkeit" der Mozartschen Musik gerade in dieser Oper sich von der Mysterienkonzeption her beleuchten. Anhand dieser Zusammenhänge, die ich in meinem Buch Die Zauberflöte. Oper und Mysterium (2005) im Einzelnen dargelegt habe, frage ich nach den Möglichkeiten einer solchen "kulturwissenschaftlichen", das heisst werktranszendenten, kontextualisierenden Betrachtung in Bezug auch auf andere Werke der Opern- bzw. Musikgeschichte. 

Mannfred Hermann Schmid: Die "Ständchen"-Sätze in Mozarts Salzburger Serenaden 
Die viel behauptete Sprachprägung der Musik der Wiener Klassiker, eine Prägung, die den Tönen letztlich die Fähigkeit verleihe, selbst zu "sprechen" und die sich so in einem Prozess der Umkehrung von Sprache wiederum lösen kann, um als "absolute Musik" im Verständnis der deutschen Romantiker das auszudrücken, was Sprache nicht sagen könne, soll an einem bestimmten Satztyp des Mozartschen Werkes verfolgt werden, der durch seine geschichtlichen Bindungen an die Serenade eine besondere Nähe zu Vokalmusik beansprucht. Der übergeordnete Divertimentokontext wiederum provoziert einen spielerisch assoziativen Umgang mit wortlosen Tönen und tonlosen Worten. 

Matthias Schmidt: Auswege zum Klassischen. Über "Einfluss"-Theorien in der musikalischen Praxis 
Die musikalische "Klassik" wurde lange Zeit als Synthese verschiedener künstlerischer Strömungen gedeutet, die einer ihrer Vielfalt wegen als identitätslos gescholtenen Epoche entstammten (ihr wurde bezeichnenderweise der Hilfsbegriff "Vorklassik" zugeteilt). Die Kategorie Einfluss sollte dabei eine qualitative Musikentwicklung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begründen: Sie sah die stilistische Hleterogenität der Musikzentren Mailand, London, Berlin oder Mannheim in einer durch Haydn, Mozart und Beethoven geschaffenen Wiener "Universal"-Sprache vereint. Für eine angemessene Bewertung des europäischen Komponierens vor und nach 1780 muss der Einfluss-Begriff jedoch praxisnäher beleuchtet werden: Durch die Aufmerksamkeit für die Wandlungen im Verständnis von kompositorischen Einflüssen, wie sie die zeitgenössische Hörwahrnehmung, die Musiktheorie und die spätere Wirkungsgeschichte zeigen, können spannende Fragestellungen für Musikanalyse und Aufführungspraxis entstehen. 

Clemens Risi: Mozart-Musiktheater - Wege des Performativen 
Der "performative turn" in den Künsten und den Geisteswissenschaften hat eine neue Sensibilität für die Aufführungsdimension der Oper gebracht, ein erstarktes Bewusstsein für die Performance einer Oper und die an der Performance beteiligten "Materialien" (wie etwa Körperlichkeit und Stimmlichkeit der Sängerdarsteller, die Präsenz/Ausstrahlung eines Performers). Der hier vorgeschlagene Ansatz plädiert dafür, bei der Bewertung und Analyse einer Operninszenierung nicht von in irgendeiner Form vorgegebenen Regeln für die Interpretation/Aufführung einer Opernpartitur auszugehen, sondern die Aufführung als lebendiges, aktuelles und für die Gegenwart relevantes Geschehen zu akzeptieren, das auch ganz eigenen Regeln der Gegenwart gehorcht und das mit ganz verschiedenen gegenwärtigen Materialien (wie Stimmen, Körpern, Bildern), aber auch mit historischen Materialien (wie etwa der entsprechenden Partitur Mozarts) umgeht. 

Helen Geyer: Mozart im Spannungsfeld der Zeitgenossen. Experimentierfelder des dramma per musica im Werk des Zeitgenossen Luigi Cherubin
Im Zentrum der Überlegungen stehen zwei Werke: Idalide (opera seria) und Lo Sposo di tre (dramma giocoso per musica) von Luigi Cherubini. Beides sind (relativ) unbekannte Werke, die sich heute im Handschriftenbestand der Biblioteka Jagielloneka in Krakau befinden. Gesichtspunkte des musikalischen Satzes und der Instrumentation in Kombination mit der dramatischen Funktion sollen an beiden beispielhaft diskutiert werden, wobei sich zugleich das Spektrum zu Mozart und den Zeitgenossen hin eröffnet. 

Wolfgang Lukas: Anthropologie und ästhetische Selbstreflexion. Aspekte des Strukturwandels in deutschsprachigen Singspiel- und Opernlibretti zwischen ca. 1750-1800 
Nach der Krise der deutschsprachigen Oper im Gefolge der frühaufklärerischen Theater- und Bühnenreform (J. C. Gottsched) kommt es um ca. 1760 zur epochalen Neubegründung des Musiktheaters durch C. F. Weisse und J. A. Hiller im Zeichen 'empfindsam-emotionalistischer' Prämissen. Das begleitende theoretische Schrifttum unternimmt eine Neulegitimation der Gattung unter Rekurs auf die neue, um die Jahrhundertmitte entstehende Anthropologie und die von ihr propagierte Aufwertung der Sinnlichkeit (der sog. "niederen Seelenkräfte"). Neben gattungsgeschichtlichen Problemen werden vor allem Aspekte der (impliziten) Anthropologie und der textimmanenten ästhetischen Reflexion behandelt und in Beziehung zum theoretischen Schrifttum gesetzt. 

Paola Cimino: "Eindruck der grossartigste, den hier je ein Werk hervorgebracht." Die Schweizerischen Erstaufführungen von Glucks Orpheus (1856) und von Bachs Johannespassion (1861) in Basel 
Es ist heute kaum mehr vorstellbar, wie schwierig es noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts war, die aus heutiger Sicht populärsten Werke als klingende Musik aufzuführen bzw. zu erleben. Im vorliegenden Aufsatz wird auf die Verbreitung der geistlichen und weltlichen Vokalmusik sowie auf die Entwicklung des gemischten Chorwesens in Basel eingegangen. Dabei wird ein Beispiel für geistliche und eines für weltliche Musik ausgeführt und darüber berichtet, wie dank des unermüdlichen Engagements des Ehepaars Riggenbach-Stehlin und seines "Singkränzchens" eine Oper von Christoph Willibald Gluck und die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach ihren Weg in die Schweiz fanden. 

Tobias Plebuch: Vom richtigen Notenlesen. Dilemmata editorischer Strategien um 1900
Die Vorgeschichte der historisch-rekonstruktiven Aufführungspraxis steht in engem Zusammenhang mit der Krise des musikalischen Historismus um 1900, die auch als eine musikalische Bildungskrise aufgefasst werden kann. Die erste Generation der Denkmäler- und Gesamtausgaben im 19. Jahrhundert hatte zwar zur Entwicklung von Standards wissenschaftlicher (nicht rein kommerzieller) Editionen geführt, dabei aber zum Teil kryptische Ergebnisse produziert. Das Hauptproblem dieser Editionen bestand keineswegs in ihrer philologischen Unzuverlässigkeit, sondern in ihrer praktischen Unbrauchbarkeit. Konfrontiert mit historischen Schlüsseln, vergessenen Instrumenten und Verzierungszeichen, kargen Notentexten, Generalbassbezifferung usw., machten die allermeisten Musiker einen weiten Bogen um die repräsentativen Prachtbände, wie sich aus teils deprimierten, teils sarkastischen Berichten belegen lässt.

II. BIBLIOGRAPHIE DER NEUERSCHEINUNGEN ZUR HISTORISCHEN MUSIKPRAXIS 2004/05, ZUSAMMENGESTELLT VON DAGMAR HOFFMANN-AXTHELM