Buch

Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 16 (1992)

Modus und Tonalität

Peter Reidemeister (Hg.)

  • Reihe/Serie
    Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis
  • Band
    16
  • Ort
    Winterthur
  • Verlag
    Amadeus
  • Jahr
    1993
  • ISBN
    978-3-905049-58-9
  • Typ
    Buch
Schlagwörter

Kirchentöne; Modus; Tonalität;

I. MODUS UND TONALITÄT

Harold Powers: Gibt es den Modus? Pietro Aron, die acht Kirchentöne und die Mehrstimmigkeit
In diesem Essay werden Anordnung, Beiweisführungen und Erläuterungen von Pietro Arons Trattodo di tutti li tuoni del canto figurato (Venedig 1525) - dem frühesten ernstzunehmenden Versuch, eine Beziehung zwischen mehrstimmiger Praxis und modaler Theorie nachzuweisen - detailliert analysiert. Aron hatte sich selbst die Aufgabe gestellt, die Modaltheorie der Kirche in der Form, wie er sie durch die mit dem Lucidarium des Marchettus von Padua beginnende Tradition ererbt hatte, an die polyphone Praxis seiner Zeit anzupassen, eine Praxis, die sich in einem Repertoire darstellt, wie es weitgestreut in den Drucken von Petrucci und Antico aus dem ersten Quartal des 16. Jahrhunderts dokumentiert ist. Es wird darauf hingewiesen, dass Arons - und auch Glareans - Werke als das anerkannt werden sollen, was sie sind: als brilliante Konstrukte, mit denen Möglichkeiten vorgeschlagen und dargestellt werden, die tonalen Prozesse im Bereich der Mehrstimmigkeit zur Zeit Josquins und etwas später zu handhaben - im einen Fall aus scholastischer, im anderen aus humanistischer Sicht. Es wird nachgewiesen, dass beide Autoren mehrstimmigen Kompositionen Modi zuschreiben und dass sie nicht etwa Modi in der Polyphonie entdecken; und es wird betont, dass keiner von beiden zu einem blossen Informanten über das Denken und das praktische Können der Musiker seiner Zeit herabgewürdigt werden darf. Ausserdem wird der Versuch unternommen, die Gedankengänge hinter manchen von Arons scheinbar problematischen modalen Anweisungen zu rekonstruieren, und mit einer möglichen Ausnahme wird gezeigt, dass sich die Probleme durch eine unvoreingenommene Lektüre von Arons Text im Sinne seiner eigenen Prämissen lösen lassen. 

Bernhard Meier: Auf der Grenze von modalem und dur-moll-tonalem System
Tonarten- und Klanglehre sind im 16. Jahrhundert prinzipiell getrennte Bereiche. Die Tonarten mehrstimmiger Musik jener Zeit gelten als im Grund identisch mit den melodisch definierten Modi des Gregorianischen Chorals. Auch der Charakter eines Modus als "heiter" oder "traurig" wird prinzipiell durch melodische Qualitäten - authentisch oder plagal - bestimmt. In der Musiklehre des 16. Jahrhunderts, und besonders seit der Mitte desselben, finden sich jedoch Zeugnisse für den Gebrauch von "Dur"- bzw. "Moll"-Klängen als Mittel zur Ausdeutung des Gehalts einzelner Worte. Durch die Vermehrung solcher Episoden werden die Modi zwar allmählich zersetzt; doch fungieren sie, wie an drei Beispielen - einer Motette Lassos und zwei polyphonen Madrigalen Monteverdis - gezeigt wird, auch weiterhin als musikalische Regulative von Abläufen ganzer Werke: Abläufen, deren "Logik" sich nur von der Moduslehre her erschliesst. 

Christian Berger: Hexachord und Modus. Drei Rondeaux von Gilles Binchois
Das mittelalterliche Tonsystem beruht auf einer achtstufigen Leiter, die b und h als gleichberechtigte Bestandteile einbezieht. In dieser Vielfalt stellt das System der Hexachorde im Zusammenspiel mit der Lehre von den Kirchentönen ein Hilfsmittel zur Verfügung, mit dem sich ein Sänger im offensichtlich nur schwer überschaubaren Bereich der Töne von [Gamma] bis ee zurechtfinden konnte. Für uns ergibt sich daraus das Problem, dass die Aufzeichnungen des 14. und auch noch des 15. Jahrhunderts offensichtlich mit einem Sänger rechneten, der das Verfahren der Solmisation beherrschte. Die musiktheoretischen Hintergründe und usuellen Voraussetzungen einer musikalischen Aufzeichnungsweise werden in einem kurzen Überblick dargestellt, um an drei Beispielen aus dem 15. Jahrhundert Konsequenzen aufzuzeigen, die ein solches Verfahren auch noch für die Zeit des Übergangs zwischen Mittelalter und Renaissance nach sich zieht.

Jean-Pierre Ouvrard: Modus und Textausdruck in der französischen Chanson des 16. Jahrhunderts. Bemerkungen zum e-Modus
Hinsichtlich der Organisation von Pierre Ronsards durch Antoine de Bertrand veröffentlichten Werke (1576-1578) ist bemerkt worden, dass e - oder der dritte und vierte Modus - im französischen Repertoire im besonderen Masse als passend für den Ausdruck der Trauer empfunden wurden. Dies bestätigen auch die Editionen Pierre Attaingnants und andere Sammeldrucke aus dem späteren 16. Jahrhundert (Regnard, 1579; de Monte, 1575) sowie Stichproben aus früheren Repertoires (Josquin Desprez, das Chanson-Album der Margarete von Österreich etc.). Das "e-Modus-Ethos" mit seiner speziellen Kadenz gestattet Ausdruckssteigerungen durch den beharrlichen Gebrauch des melodischen Halbtons - die rhetorische Figur der pathopoiia (Burmeister) - sowie durch die "aufhaltende" oder "abnehmende" Verwendung der Kadenz par demyton (Loys Bourgeois).

Anne Smith: Die Motetten Willaerts und der Modus
In diesem Beitrag wird die Rolle dargestellt, die das Moduskonzept bei der Anordnung der Werke in zwei Drucken Gardanos von Willaerts Motetten spielt. Bei der modalen Klassifikation zeigen sich Unterschiede zwischen dem Ansatz des 16. und dem des 20. Jahrhunderts. Es folgt eine ausführliche Analyse von Mirabile mysterium sowie von Ave Regina coelorum. In jeder dieser beiden Motetten erfüllt der Modus eine grundverschiedene Funktion. In der ersten wird das Moduskonzept strukturell verwendet, um den Text zu illustrieren, während es im zweiten den kontrapunktischen Momenten untergeordnet erscheint. In diesen Werken zeigt sich, dass der Modus nur einer der strukturell wichtigen Faktoren der Polyphonie ist. 

Markus Jans: Modale "Harmonik" im 16. und frühen 17. Jahrhundert
Eine Untersuchung zu den Fragen, inwieweit die Klanglichkeit in Kompositionen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts modusspezifisch erfasst werden kann, welche Kriterien die Logik der Klangverbindungen bestimmen und welche Faktoren sie im Verlaufe der untersuchten Zeit verändern, Faktoren, die somit ausschlaggebend sind für die Entwicklung der tonalen Harmonik.

Wolfgang Horn: Tonalität und Geschichte. Francescantonio Vallottis Kritik an Fuxens Darstellung der Modi.
Der Streit um das rechte Verständnis von "Tonalität" wird von jeher mit besonderer Schärfe geführt. Denn dabei geht es letztlich um die Frage, was die Musik im Innersten zusammenhält. Ein besonderes Charakteristikum dieser Kontroversen besteht darin, dass man die theoretische oder metaphysische Tiefendimension des Dissenses in der Regel nicht thematisiert, sondern den Streit an der Oberfläche, im Bereich der Satzregeln austrägt. J.J. Fux vertrat noch in der Zeit des Barock ein Tonalitätskonzept, das auf den Grundgedanken der alten, melodisch determinierten Moduslehre beruhte. Dabei musste er wesentliche Bestimmungen dieser Lehre preisgeben, wollte er nicht in einen offenen Widerspruch zur Kompositionspraxis seiner eigenen Zeit geraten. Fr. Vallotti setzte sich in den 1730er Jahren intensiv mit Fux auseinander und formulierte eine Position, die in Grundzügen noch heute aktuell ist: Im Bereich der Mehrstimmigkeit sah er zwei Bezirke mit je eigenen und grundverschiedenen Regeln, den Bezirk der "mehrstimmigen Modi" und den der "modernen harmonischen Tonarten". Vallottis überlegene, bislang nicht angemessen gewürdigte Argumentation unterscheidet sich in bemerkenswerter Weise von dem einseitigen Dogmatismus, der sich nicht nur bei Fux, sondern auch bei seinen Widersachern (etwa Mattheson) findet.

II. BIBLIOGRAPHIE DER NEUERSCHEINUNGEN ZUR HISTORISCHEN MUSIKPRAXIS 1991/92, ZUSAMMENGESTELLT VON DAGMAR HOFFMANN-AXTHELM