Buch

Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 24 (2000)

Direktion und Dirigieren

Peter Reidemeister (Hg.)

  • Reihe/Serie
    Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis
  • Band
    24
  • Ort
    Winterthur
  • Verlag
    Amadeus
  • Jahr
    2002
  • ISBN
    978-3-905049-88-6
  • Typ
    Buch
Schlagwörter

Dirigent; Dirigieren; Musikgeschichte 1500-1900

I. DIREKTION UND DIRIGIEREN

Manfred Hermann Schmid: Taktstrich und Dirigat
Die Geschichte des Taktstrichs beginnt spätestens im 16. Jahrhundert - allerdings "versteckt" in der Partiturform der Komponierschrift, während ihn die "öffentliche" Schrift der Aufführung bei Stimmen unterdrückt. Für die Gründe der Differenz lassen sich bisher nur Vermutungen anstellen. So könnte der einteilende Strich in der Schrift eine Art "stilles Dirigieren" angezeigt haben. Im 17. Jahrhundert wandert das Zeichen der Paritur jedoch allmählich auch in die Stimmen. Damit setzt ein Prozess ein, der einen neuen Taktbegriff entstehen lässt. Dieser befördert bei den Wiener Klassikern auch neue Techniken der Komnposition, die den Taktstrich geradezu hörbar machen. Im 19. Jahrhundert ist die Entwicklung quasi rückläufig. Der Taktstrich wird wieder zu einem blossen Zeichen leichter Verständigung für die Ausführenden, der im Erklingen nicht spürbar sein soll. So hat es jedenfalls ein Komponist wie Richard Wagner als Ziel formuliert.

Klaus Miehling: Direktion und Dirigieren in der Barockoper
Die bei einer barocken Opernproduktion anfallenden Aufgaben konnten von einem in Italien so genannten Corago geleitet und koordiniert werden, der gleichzeitig oft der Komponist oder der Librettist des Werkes war. Die musikalische Direktion liegt in der Regel beim Komponisten. Er überwacht die Musikproben und fungiert in der französischen Oper als batteur de la mesure, falls er diese Aufgabe nicht einem Assistenten übertragen hat. In der italienischen Oper dirigiert er am ersten Cembalo, in späterer Zeit unterstützt vom Konzertmeister. In der frühen italienischen und der frühen deutschen Oper üblich - und auch in Frankreich nicht unbekannt - war die Aufstellung des Orchesters hinter der Bühne oder zwischen den Seitenkulissen. Charakteristisch für die französische Oper ist das Auswendigspiel des Orchesters (im 17. Jh. und wohl auch noch im frühen 18. Jh.) sowie die Position des Dirigenten am Bühnenrand. Bühnenbild, Kostüme und Maschinen spielten für den zeitgenössischen Rezipienten eine ebenso grosse Rolle wie Musik und Tanz.

Jesper B. Christensen: Del Modo di Guidare colla Battuta e senza. Francesco Maria Veracini über das Dirigieren
Etwa um 1760 schrieb Francesco Maria Veracini seinen umfangreichen handschriftlich überlieferten Traktat Il Trionfo della pratica Musicale. Darin widmete er der Ensembleleitung einen ausführlichen Artikel, der in der einschlägigen Literatur bisher noch nicht diskutiert wurde. Einerseits werden darin Dinge bestätigt, die bereits aus anderen Quellen der Zeit bekannt sind, wie unterschiedliche Leitungsmethoden in Oper-, Kirchen-, und Kammermusik. Andererseits erhält man wertvolle Hinweise auf spezielle Eigenheiten der Ausführung, wie etwa Tempomodifikationen mit Rücksicht auf den Inhalt des Textes einer Vokalkomposition. Kommentare zu einzelnen Textpassagen und in einem Anhang beigegebene Ausschnitte aus korrespondierenden Quellen stellen Veracinis Aussagen in den Kontext seiner Zeit. Veracinis pointierter Erzählstil erzeugt ein lebendiges Bild vom Ensemblespiel im 18. Jahrhundert.

Thomas Drescher​: Dirigieren als Kunst. Zu den Anfängen der neuzeitlichen Orchesterleitung bei I. F. K. Arnold (1806)
Ignaz Ferdinand Kajetan Arnold veröffentlichte 1806 mit seinem Buch Der angehende Musikdirektor ein umfangreiches Kompendium zu Fragen der Orchesterleitung, das erstaunlicherweise bisher noch keine Würdigung erfahren hat. Arnold ist einer der ersten, der das Dirigieren als eigenständige künstlerische Aufgabe begreift und dies ausführlich begründet. Er liefert damit eine ästhetische Basis für die Aufgaben des Dirigenten bis in die Gegenwart. Selbst als Autor von zahlreichen Trivialromen hervorgetreten, nimmt Arnold Bezug auf Übertragungsmechanismen bei der Vermittlung individueller Gefühle auf eine gesellschaftliche Gruppierung, wie sie in der Literatur der "Empfindsamkeit" bereits vorgeprägt waren. Der fortschrittlichen ästhetischen Position stehen aber handwerkliche Faktoren der Ensembleleitung gegenüber, die die Abhandlung in eine kontinuierliche Tradition seit dem 17. Jahrhundert einreihen. Mit vergleichenden Blicken auf ikonographische Zeugnisse (Weigel, ca. 1720, Praetorius 1620) und Texte anderer Autoren wird in Bezug auf Leitungstechniken, Fragen des Partiturgebrauchs und im Hinblick auf das Verhältnis von Musikern zum Dirigent ein Überblick vom 17. bis ins 19. Jahrhundert gegeben.

Hans Martin Linde: "Auf französische Art mit dem Stäbchen" oder mit "unbewaffneter" Hand. Ein Blick zurück auf den Kapellmeister des beginnenden 19. Jahrhunderts
Der "Anführerer der Musik" des 18. Jahrhunderts wandelt sich um 1800 zum deutschen "Kapellmeister", zum französischen "chef d'orchestre", zum italienischen "maestro", zum englischen "conductor". Das neu entstehende Berufsbild weist dabei durchaus individuelle sowie zeitbedingte Ausprägungen auf. Doch lassen sich über die Zeiten hinweg einige allgemeingültige Ansprüche an einen Dirigenten beobachten. So wird stets eine bestens ausgebildete Musikerpersönlichkeit mit guter Allgemeinbildung erwartet. Hauptaufgabe aber bleibt es, den Geist der aufzuführenden Werke zu erkennen und in eine persönlich gefärbte Interpretation umzuformen. Dazu bedarf es einer werkbezogenen, verständlichen und eindrucksvollen Gestik, gleichgültig, ob diese mit oder ohne Taktstock praktiziert wird.

D. Kern Holoman: ​Berlioz als Dirigent
Am 3. Februar 1843 tauschte Hector Berlioz während der Generalprobe zu seinem Leipziger Konzert mit Felix Mendelssohn, dem gefeierten Dirigenten des Gewandhaus-Orchesters, den Taktstock. Dieser Tausch symbolisiert, dass Berlioz zu diesem Zeitpunkt seinerseits als Dirigent den Punkt der Reife erlangt hatte. In Europa wurde der Notwendigkeit, dass ein Einzelner als Autorität dem Orchester vorzustehen hatte, in unterschiedlicher Weise entsprochen: In Paris favorisierte man - zuerst praktiziert von F.-A. Habeneck - den chef d'orchestre violoniste. Berlioz ging einen Schritt weiter, indem er mit einem Taktstock nach der Partitur dirigierte. Aufschluss über sein Dirigieren ergibt sich aus ikonographische Quellen, aus Berlioz' Schrift über das Dirigieren, aus seinen Briefe und Memoiren sowie aus Zeugnisse der Zeitgenossen. Für ihn waren die verschiedenen Rollen eines Orchesterleiters - conducteur, instructeur, organisateur - untrennbar miteinander verbunden. Gegen Ende seiner Lebens sagte er, dass er liebend gern an jedem Tag dirigieren würde.

José A. Bowen: The missing link. Franz Liszt the conductor
Die Tatsache, dass Liszt für die Geschichte des Dirigierens von zentraler Bedeutung war, wird weitgehend ignoriert, aber sein Einfluss auf diesem Gebiet ist gleichbedeutend mit demjenigen Wagners. Seine Lebensmitte verbrachte Liszt als Kapellmeister in Weimar, wobei er von Mozart bis zu den schwierigsten zeitgenössischen Werken (u.a. einigen Wagner-Uraufführungen) alles dirigierte. Liszt hatte einen weitaus grösseren Schülerkreis als Wagner, und viele seiner Klavierschüler wechselten später aufs Podium. Obwohl Liszt zu beschäftigt war, um seine zahlreichen Aufsätze in Buchform herauszugeben, unterrichtete und verbreitete er eine detailliert ausgearbeitete Theorie von der Rolle des ausführenden Musikers. Sein Kennzeichen als Pianist war die Fähigkeit, den tiefsten Gehalt der Musik zu vermitteln, und ebenso wie für das Klavierspielen entwickelte er für das Dirigieren neue Techniken. Während Wagner kaum je die linke Hand benutzte und dem Orchester seine Vorstellungen hauptsächlich verbal vermittelte, erfand Liszt die gestische Sprache von Gesichtsausdruck und Körperbewegung, die schliesslich zum Hauptelement modernen Podium-Auftretens wurde.

Hans-Joachim Hinrichsen: Der moderne Dirigent? Hans von Bülows Beitrag zur neuzeitlichen Interpretationskultur
Hans von Bülow ist einer der ersten Vertreter des "modernen" Dirigenten. Der Begriff des "Modernen" ist durchaus doppeldeutig. Stilgeschichtlich meint er um 1900 die Betonung subtiler psychischer Ausdrucksqualitäten der Musik. In einem allgemeineren Sinne dagegen bezeichnet er das Neue im Berufsbild des professionellen Dirigenten, also all jene Züge, die auch in der heutigen Konzertkultur noch die entscheidenden sind: Aufführung (performing) als Profession, Interpretation als Gegenstand öffentlicher Diskussion. Ein "moderner" Dirigent ist Bülow vor allem im letzteren Sinne. Auf dem Hintergrund der Interpretationsästhetik Wagners und Liszts, bei denen er ausgebildet worden ist, entwickelt sich Bülows Musizierideal als rhetorisch, deklamatorisch und expressiv. Dadurch wurde er häufig auch als "modern" im stilgeschichtlichen Sinne rezipiert. Das erhaltene Material, auf dessen Grundlage Bülows Praxis einigermassen genau rekonstruiert werden kann, legt aber eine andere Deutung nahe: Bülow gehört zu jenen Musikern, die ein auf die geradezu analytische Wahrnehmung des Strukturellen ausgerichtetes Musikhören förderten. Damit hat er einer Musikauffassung den Weg geebnet, wie sie beispielsweise Hugo Riemanns Analyseschriften - nach dessen eigener Aussage - zugrundeliegt.

II. BIBLIOGRAPHIE DER NEUERSCHEINUNGEN ZUR HISTORISCHEN MUSIKPRAXIS 1998/1999, ZUSAMMENGESTELLT VON DAGMAR HOFFMANN-AXTHELM, 181-284