Buch

Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 23 (1999)

Barockoper: Bühne – Szene – Inszenierung

Peter Reidemeister (Hg.)

  • Reihe/Serie
    Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis
  • Band
    23
  • Ort
    Winterthur
  • Verlag
    Amadeus
  • Jahr
    2000
  • ISBN
    978-3-905049-86-2
  • Typ
    Buch
Schlagwörter

Oper; Inszenierung; Bewegung;

I. BAROCKOPER: BÜHNE - SZENE - INSZENIERUNG

Silke Leopold: Über die Inszenierung durch Musik. Einige grundsätzliche Überlegungen zur Interaktion von Verhaltensnormen und Personendarstellung in der Barockoper
Sozialgeschichtliche und kompositionsgeschichtliche Forschungen zur Oper haben gemeinhin wenig miteinander zu tun, da die einen sich - vereinfacht gesprochen - mit den Rahmenbedingungen, die anderen mit dem Tonsatz beschäftigen. Dieser Beitrag versucht, eine Brücke zwischen den beiden Ansätzen zu schlagen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Tonsatz aufzuspüren. Ausgehend von den Verhaltenslehren des 16., 17. und frühen 18. Jahrhunderts (Castiglione, Della Casa, Gracián etc.) werden die Kernbegriffe gesellschaftlichen Miteinanders - sprezzatura, cirimonie und dissimulazione - als Grundlage auch der musikalischen Erfindung beschrieben: Die höfisch-exklusive sprezzatura als ein demonstratives Übertreten der kompositorischen Regeln im Namen einer gewollten Natürlichkeit, die Komplimentierkunst der cirimonie als gleichsam vorgefertigte, in sich abgeschlossene Schmuckformeln in den musikalischen Verzierungslehren ebenso wie in der Vorliebe für Ostinatokompositionen, die Affektkontrolle der dissimulazione als Modell für die Da-Capo-Form der Arie. Auch die Verhaltensmaximen, die sich aus den Erkenntnissen der Philosophie hinsichtlich des Zusammenhangs von körperlicher und seelischer Bewegung ergeben, beeinflussen die musikalische Erfindung und machen deutlich, wie eng die kompositorische Entwicklung an die Veränderungen des Menschenbildes gekoppelt ist. Dies wird an ausgewählten Arien aus Luigi Rossis Orfeo sowie Georg Friedrich Händels Giulio Cesare, Arianna in Creta und Alcina exemplifiziert. 

Jürgen Schläder: Das Fest als theatrale Fiktion von Wirklichkeit
Anlässlich der Geburt des Thronfolgers Max Emanuel wurden 1662 am kurfürstlichen Hof der Wittelsbacher in München die Applausus festivi aufgeführt, ein Dramma per musica (im Opernhaus am Salvatorplatz), ein Turnierdrama (im Turnierhaus) und ein Feuerwerksdrama (auf Isar-Flossen), die inhaltlich und dramaturgisch zu einer kohärenten Handlungsfolge verknüpft waren. Erstmals in der europäischen Theatergeschichte wurden somit sämtliche tradierten Gattungen und theatralen Stile in einen geschlossenen künstlerischen Rahmen integriert. Das Festprogramm spiegelte die zeitgenössische Ästhetik: das Wechselspiel zwischen der Inszenierung höfischen Lebens und der Inszenierung von Theater, die vor allem im Turnierdrama unmittelbar an die Realität des Münchner Hofs zurückgebunden wurde. Alle drei Aufführungen repräsentierten eine singuläre stilistische Geschlossenheit, weil Handlungsdramaturgie und avancierte Szenographie der drei Festdramen an der zeitgenössischen Opernästhetik orientiert waren. Damit wurde in diesem exemplarischen Münchener Fest nicht nur ein exponierter aussenpolitischer Führungsanspruch formuliert, sondern auch die fiktive Transformation von höfischer und politischer Realität als symbolisch überhöhtes Abbild von Wirklichkeit.

Barbara Zuber: Der bewegte Raum - Szenarien einer Zauberoper. Pietro Torris Amadis de Grecia (1724) auf der Münchner Hofbühne
Am Beispiel dieser 1724 in München uraufgeführten Zauberoper wird die Bühnensprache des bewegten Raums auf der Bühne des barocken Musiktheaters untersucht. Im Vordergrund steht die Frage, inwieweit man aus dem überlieferten Bildmaterial zu den Dekorationsentwürfen - angefertigt von den Brüdern Valeriani aus Venedig - sowie aus den im Nebentext des Librettos festgehaltenen Beschreibungen des Bühnenbildes und der Bühnenaktionen Beziehungen zwischen Dramaturgie, Stoffbehandlung und Szenographie eruieren kann; dies alles unter Berücksichtigung des Produktionsprozesses im Hinblick auf das Musiktheater, wie er im frühen 18. Jahrhundert auf der Bühne des Münchner Salvator-Theaters praktiziert wurde. Es zeigt sich, dass das szenische und bühnentechnische Konzept der Kulissen- und Maschinenaktionen einer Strategie der Enthüllung, der sinnlichen Täuschung sowie der Entgrenzung des Raums folgt und damit eine ganz eigene dramaturgische Plausibilität entwickelt.

Hans-Georg Hofmann: Das Dresdner Planetenballett 1678/79. Aspekte einer Inszenierung
In seinen Harmonice mundi (1619) äusserte Johann Kepler den Wunsch nach einer komponierten Sphärenmusik. Während die Konzeption des Balletts Die Tugendsterne mit der Musik von Sigmund Th. Staden im fünften Buch der Frauen-Zimmer Gesprächs-Spiele (Nürnberg 1645) von Georg Philipp Harsdörffer ein eher wirkungsloses Lehrbeispiel für derartige Bemühungen darstellt, folgt das Dresdner Planetenballett (1678) den Regeln höfischer Repräsentation, die sich bis in den Notentext hinein nachweisen lassen. Hintergrund der Erstaufführung dieses Werkes war die "Durchlauchtigste Zusammenkunft" von Johann Georg II. (reg. 1656-1680) und seinen drei Brüdern, die im Rahmen eines vierwöchigen Festes am Dresdner Hof stattfand. Sie hatte in erster Linie politische Beweggründe. Ein Schwerpunkt dieser Untersuchung besteht darin, der Frage nach dem Verhältnis zwischen musikalischen Strukturen und Repräsentation höfischer wie astraler Ordnungsvorstellungen nachzugehen. In einem weiteren Schritt werden, wenn auch auf induktivem Weg, die äusseren Rahmenbedingungen dieser Inszenierung in ihrer Ausrichtung auf das Publikum betrachtet.

Hubert Ortkemper: "Nachahmung der Natur". Realismus auf der barocken Opernbühne
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird auf dem Theater zunehmend Realismus eingefordert. Die Typisierung der Opera seria, die Austauschbarkeit von Arientexten, Bühnenbild und Kostümen wird als unnatürlich empfunden. Rousseaus "Zurück zur Natur" betrifft auch die Bühne. In den dreissig Jahren von 1750 bis 1780 verändert die Oper nicht nur musikalisch, sondern auch szenisch grundlegend ihr Gesicht. Das Musikdrama löst die Opera seria ab.

William Sutherland: Das Bühnenbild der Opera seria im 18. Jahrhundert. Versuch einer Inventarisierung.
Ein erster Versuch zur Inventarisierung der Bühnenbilder für die Opera seria des 18. Jahrhunderts, vorläufig beschränkt auf die Anweisungen für das Bühnenbild in den Libretti der beiden Erzväter der Opera seria: Apostolio Zeno und Pietro Metastasio. Aus diesen Anweisungen - um die 550 Stück - lassen sich die Bühnenbilder für etwa 1600 verschiedene Oper feststellen. Es wird versucht, eine Klassifikation fur die Opera seria zu formulieren, anschliessend an Ménestriers Typologie von 1681 für das Bühnenbild der späten Venezianischen Oper. Mit einer detaillierten Klassifikation und mit einer Publikation der Anweisungen für das Bühnenbild in den Libretti des 18. Jahrhunderts könnten viele Zeichnungen identifiziert werden, die anonym oder als "Bühnenbild für eine unbekannte Oper" in den Sammlungen von Museen und Bibliotheken ruhen.

Hans Joachim Marx: Bemerkungen zu szenischen Aufführungen barocker Oratorien und Serenaten
In der Literatur zur Geschichte des Oratoriums wird gelegentlich bemerkt, die im Zusammenhang mit den "esercizi spirituali" aufgeführten Oratorien wären in Rom szenisch aufgeführt worden. Obwohl Angaben in Oratorien-Libretti darauf hindeuten, ist der Frage, auf welche Weise man sich eine solche "szenische" Aufführung vorzustellen habe, kaum nachgegangen worden. Howard Smither hat zwar herausgestellt, dass die Oratorien des Hochbarock nicht wie Opern aufgeführt wurden, sondern "konzertmässig", auf einer "decorated concert stage", doch blieb die Art und Weise der Dekoration undeutlich. Anhand römischer Quellen, die von Skizzenbüchern der Theaterdekorateure bis hin zu Festbeschreibungen reichen, kann nun nachgewiesen werden, dass die von Mäzenen in Auftrag gegebenen festlichen Oratorienaufführungen auf Bühnen stattfanden, die mit Dekorationen reich ausgeschmückt waren. Die Dekorationen bestanden aus "aparati", mit denen das Sujet des Oratoriums, zuweilen auch sein politischer oder dynastischer Anlass, bildlich vergegenwärtigt wurde. Die nicht nur in Kirchen, sondern auch in grossen Sälen der Paläste und in Theatern aufgebauten "apparati", die auch als "ephemere Architektur" bezeichnet werden, stehen durch ihre religiöse Bindung an die filippinische Erneuerungsbewegung nicht in der Tradition der weltlichen Theatermalerei, sondern gehen auf die "visualisierte Eucharistietheologie" (Karl Noehles) des Vierzigstundengebets und der Aufstellung des Heiligen Grabes zurück. Gelegentlich zeigen auch noch die pompös ausgestatteten Serenaten-Aufführungen Elemente dieser religiös bestimmten Festkultur.

Thomas Betzwieser: Musikalischer Satz und szenische Bewegung: Chor und "choeur dansé" in der französischen Oper (Académie Royale de Musique)
Der Chor in der französischen Barockoper war, was dessen szenische Erscheinungsform anbelangt, eine weitgehend statische Angelegenheit. Dennoch gab es seit Lully einen Nummerntyp, der Chorgesang und Tanz vereinte, nämlich den "choeur dansé". Innerhalb des "choeur dansé" war also Bewegung möglich, allerdings ausschliesslich durch die Figuranten des Balletts, nicht durch die Choristen. Gluck machte sich in seinen Pariser Reformopern diesen Nummerntypus insofern zunutze, als er mit dem "choeur dansé" den Chor buchstäblich "in Bewegung setze", d.h. ihn an eine szenische, sichtbare Bewegung band. Dabei kam dem Tanz nicht länger nur Stellvertreterfunktion zu, sondern die Bewegung erstreckte sich auch auf die Choristen. Entscheidend war hierbei auch der Funktionswandel im Hinblick auf den musikalischen Satz: Während vormals ausschliesslich homophon komponierte tänzerische Sätze die Basis für Bewegung abgaben, werden bei Gluck auch imitative respektive polyphone Abschnitte zur Versinnlichung von Bewegung verwendet. Auf diese Weise wurde ein entscheidender Paradigmenwechsel vollzogen: Wo ehedem Polyphonie nur als Surrogat für Bewegung diente, wird sie nunmehr mit sichtbarer Bühnenbewegung verknüpft.

Rebecca Harris-Warrick: "Toute danse doit exprimer, peindre ..." Finding the drama in the operatic divertissement
Anders, als dies von Musik- und Tanzhistorikern häufig angenommen wurde, ist der Tanz in französischen Barockopern kein nebensächliches, dem gesungenen Drama angehängtes Unterhaltungselement, sondern ein substantieller Teil der betroffenen Werke. In der Mitte des 17. Jahrhunderts wirkende Tanzreformer wie Cahusac bewunderten Lullys Librettisten Philippe Quinault für seine Fähigkeit, getanzte Episoden dramatisch zu gestalten. Im Aufsatz werden die Mechanismen herausgearbeit, die dazu verhelfen, dass Qinaults Aufbau und Lullys Musik den Tanz in das dramatische Geschehen integrieren. Im 18. Jahrhundert lockern sich diese Bindungen zwischen Tanz und Drama, und Tanz als Selbstzweck bekam das Übergewicht, so dass der Ruf nach pantomimisch gestaltetem, weniger auf Vokalmusik bezogenen Tanz laut wurde. In Rameaus Opern begegnen in den "divertissements" beide Möglichkeiten.

 

II. BIBLIOGRAPHIE DER NEUERSCHEINUNGEN ZUR HISTORISCHEN MUSIKPRAXIS 1997/1998, ZUSAMMENGESTELLT VON DAGMAR HOFFMANN-AXTHELM, 223-351