Buch

Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 25 (2001)

Ottaviano Petrucci 1501–2001

Peter Reidemeister (Hg.)

  • Reihe/Serie
    Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis
  • Band
    25
  • Ort
    Winterthur
  • Verlag
    Amadeus
  • Jahr
    2003
  • ISBN
    978-3-905049-89-3
  • Typ
    Buch
Schlagwörter

Musikdruck; Petrucci; Tabulatur;

I. OTTAVIANO PETRUCCI 1501-2001

Jeremy Noble: Die Grenzen von Petruccis Welt
Auf Grund ihrer Druckqualität und der hohen Quantität der enthaltenen Musik führten Petruccis Ausgaben dazu, dass sich die Musikhistoriker eine bestimmte Auffassung zu eigen machten, was die Zusammensetzung des 'zentralen Repertoires' dieser Zeit betrifft. Im Sinne einer Korrektur versucht dieser Beitrag die Leser an die dem Blickfeld Petruccis innewohnenden geographischen Begrenzungen zu erinnern.

Martin Staehelin​: Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Petrucci-Drucke
Es wird zunächst nach den Erwerbern und Besitzern von Petrucci-Drucken im 16. Jahrhundert gefragt; dabei werden die Belege nach regierenden Herrschern bzw. deren Hofkapellen, nach wohlhabenden Bibliotheksbesitzern, nach Musiktheoretikern und Musikern sowie nach privaten Einzelpersönlichkeiten gruppiert. Dann wird über die Wirkung der Petrucci-Drucke in ihrer praktischen Verwendung berichtet: es lassen sich Benutzerspuren nachweisen, doch scheinen im Gottesdienst die Messen-Stimmbuchsätze Petruccis nicht direkt, sondern vielmehr in danach hergestellten handschriftlichen Chorbüchern gedient zu haben. Gleichwohl könnten Petruccis Messendrucke auch auf die äussere Gestalt einiger erhaltener handschriftlicher Stimmbuchsätze mit Messen des frühen 16. Jahrhunderts eingewirkt haben.

Stanley Boorman​: Bezog Petruccis Sorge um Genauigkeit auch etwelche Sorge um aufführungspraktische Belange ein?
Dieser Beitrag zeigt, dass Petrucci bei der Vorbereitung seiner Ausgaben sich Petrucci bei der Vorbereitung seiner Ausgaben mit keinen aufführungspraktischen Fragen befasste.. Sein editorisches Vorgehen ist widersprüchlich: Elemente wie Textdarstellung und Notation werden von Ausgabe zu Ausgabe - und sogar in den verschiedenen Lagen ein und derselben Edition - sehr unterschiedlich gehandhabt, was wohl auf die Benutzung unterschiedlicher Vorbilder zurückzuführen ist; und es gibt Hinweise, dass drucktechnische Erwägungen deutlich schwerer gewichtet wurden als Benutzerinteressen. Andererseits zeigt der Umgang mit Korrekturen in diesen Ausgaben, dass Petrucci sehr darum besorgt war, seine Vorlagen so genau wie möglich zu kopieren. Lesarten und aufführungspraktische Hinweise spiegeln daher die Interessen und Praktiken der Quellen der Musik. Das ist bedeutsam, gibt dieser Sachverhalt doch Hinweise auf mögliche Quellen für einige von Petruccis frühen Ausgaben. Diese Ausgaben sollten wie Handschriften gelesen werden, die uns Aufschlüsse über aufführungspraktische Belange von Seiten der Lieferanten der Musik geben, aber nichts über Petruccis eigene Präferenzen aussagen.

David Fallows: Petrucci's Canti Volumes. Scope and Repertory / Petruccis Canti-Bände. Rahmen und Repertoire
Es wird vorgeschlagen: a) dass das Odhecaton möglicherweise nicht vor November 1501 erschienen ist;; b)dass die drei Canti-Bände wahrscheinlich als Einheit geplant waren und als solche betrachtet werden sollten; c) dass alle drei Bände ursprünglich wahrscheinlich mit je 100 Stücke konzipiert waren - daher die merkwürdigen Struktur von Canti C; d) dass die Canti-Bände für das neue Handwerk einen Massstab im Hinblick auf Buchformate setzten; e) dass alle drei Bände ungeachtet jeglicher gegenteiliger Anzeichen vor allem neueste Musik enthalten. Ein neuerlicher Versuch der Kategorisierung der in den Canti-Bänden vertretenen Stile führt zu der etwas überraschenden Folgerung, dass die wahrhaft neuartigen und bahnbrechende Stücke nicht nur von Josquin, sondern auch von weniger beachteten Komponisten wie Japart und Stokem stammen.

Bonnie Blackburn: Canonic Conundrums. The Singer's Petrucci / Kanon-Rätsel. Des Sängers Petrucci
An welche Käufer dachte Petrucci, als er im Jahre 1501 begann, mehrstimmige Musik zu drucken? Eine Untersuchung derjenigen Kompositionen, die Kanons enthalten, zeigt, dass unter den Abnehmern auch Laien-Musiker gewesen sein müssen, da die Musik bearbeitet wurde, um ihre Bedürfnisse zu berücksichtigen.. Petrucci (oder sein Lektor) war sich dieser Bedürfnisse nicht von Anfang an bewusst: Die ersten drei Sammlungen enthalten zwar mehrere Rätselkanons, aber keine Auflösungen. Erst mit dem ersten Band von Josquins Messen von 1502 fing Petrucci an, zusätzlich zur ursprünglichen Form auch die Auflösungen vieler Kanons hinzuzufügen. Nach 1505 druckte er häufig nur noch die Auflösung, die oft - aber nicht immer - als solche gekennzeichnet war. In vielen Fällen können wir die ursprüngliche Rätsel-Inschrift oder -Notation aus handschriftlichen Quellen zurückgewinnen, aber manche sind wohl für immer verloren. Moderne Ausgaben schmälern die ursprüngliche des Komponisten, indem sie die Original-Notation ignorieren..

Jaap van Benthem: "Kommst in die ersten Kreise!". Josquins Missa L'ami Baudichon - ihre Originalgestalt und ihre Überlieferung in Petruccis Missarum Josquin Liber Secundus
Josquins Messe L'ami Baudichon und seine Motette Illibata dei virgo nutrix sind einander in satztechnischer Hinsicht nahe verwandt. Innerhalb von Josquins früher Entwicklung als Komponist nehmen die beiden Werke eine Schlüsselstellung ein. Höchstwahrscheinlich stammen sie aus der Zeit vor Josquins erstem Aufenthalt in Italien (etwa 1484).

Birgit Lodes: An anderem Ort, auf andere Art. Petruccis und Mewes' Obrecht-Drucke
Dienten die Individualdrucke Ottaviano Petruccis als Vorbild für den frühesten nach ihm hergestellten Mensuralmusik-Druck im Typenverfahren, die Concentus harmonici (Basel: Gregor Mewes [1507])? Hierfür spricht zunächst die Anlage der Concentus harmonici als querformatige Stimmbücher mit Messen eines Komponisten. Ein eingehender Vergleich des äusseren Erscheinungsbildes und der technischen Realisierung macht dann aber deutlich, dass Mewes sich offensichtlich nicht an Petrucci orientierte: Vielmehr war er bestrebt, in seinem Druck das Erscheinungsbild zeitgenössischer Musikhandschriften so getreu wie möglich nachzuahmen und entwickelte - wohl in Anlehnung an Praktiken aus dem Choraldruck - eigenständig das hierfür notwendige technische Rüstzeug. Da Mewes mit diesem Weg in der deutschen Druckerszene nicht isoliert steht, muss der bislang meist als selbstverständlich vorausgesetzte Einfluss Petruccis auf die ästhetische und technische Gestaltung der frühen Mensuralmusik-Drucke relativiert werden.

John Kmetz: Petrucci's Alphabet Series. the A, B, Cs of Music, Memory and Marketing / Petruccis Alphabet-Serie. Das ABC von Musik, Mnemotechnik und Markt
In diesem Beitrag möchte ich dreierlei behaupten: 1. Unabhängig davon, ob Petrucci die Texte zu Canti A, Canti B und Canti C zugänglich waren, hätte er sie in jedem Fall weggelassen, weil er ein internationales Gesangs-Repertoire an eine internationale Klientel vermarktete, von der nur ein kleiner Teil Französisch sprach. 2. Petrucci war genau über die Rolle orientiert, die das Gedächtnis bei der Ausführung von Musik spielt, und dies unabhängig davon, ob diese Musik textiert oder untextiert war. 3. Wenn ein Sänger a) zunächst die Musik auswendig lernte, b) über einen Text auf einem Textblatt oder in einem Textbuch verfügte, dann konnte er c) auf der Basis von Petruccis untextierten Ausgaben zu textierten Versionen gelangen, die leicht in jeder Sprache, zu jeder Zeit und an jedem Ort realisierbar waren. Um zu zeigen, wie einfach dieses ABC-Verfahren funktioniert, beendete ich meinen Vortrag mit der Aufführung von Hayne van Ghizighems De tous bien plaine, wobei die Sängerin ein deutschsprachiges Contrafactum dieser bekannten Chanson darbot, indem sie nur den Text in der Hand hielt.

Lorenz Welker: Instrumentenspiel, instrumentaler Stil und die Instrumentalsätze bei Petrucci
Zur Identifizierung von genuiner Instrumentalmusik der Renaissance genügt nicht die Feststellung einer Überlieferung ohne Text, da der Text auch an anderer Stelle überliefert sein kann. Deshalb ist ein weiteres wichtiges Kriterium die Kennzeichnung dieser Stücke mit Hilfe eines Titels anstelle eines Textincipits. Diese Titel sind teils aus geographischen Bezeichnungen wie "La spagna" und teils aus Eigennamen wie "La bernardina" abgeleitet, teils haben sie eine aussermusikalische Bedeutung wie "La morra". Obwohl es um 1500 eine Fülle von Vokalmusik gab, die auch von Instrumentalisten gespielt werden konnte, entwickelte sich ein eigenständiges instrumentales Repertoire, das dem Bedürfnis des Komponisten nach textunabhängiger Konstruktion und dem des Instrumentalisten nach Darstellung virtuosen Könnens diente.

Dinko Fabris: The origin of the Italian lute tabulature. Venice circa 1500 or Naples before Petrucci? / Der Ursprung der italienischen Lautentabulatur. Venedig, ca. 1500 oder Neapel vor Petrucci?
Den Ausgangspunkt bildet einer semiotischen Analyse des gesamten Bestandes überlieferter Quellen zum Ursprung unterschiedlicher Tabulatur-Schriften für die abendländische Laute im 15. und 16. Jahrhundert. Auf dieser Basis versucht der Autor zu zeigen, dass die sogenannte "Neapolitanische Tabulatur" das erste Notationssystem für Zupfinstrumente war, das in der italienischen Renaissance Verwendung fand. Dieses System arabischen Ursprungs basierte auf einer mit der 1 beginnenden Zahlenreihe (O fand keine Verwendung), ähnlich der Buchstabenreihe der "französischen Tabulatur," die mit A begann. Vor dem Beginn des 16. Jahrhunderts wurde die Null in Europa nicht als Ziffer in einer Nummernreihe betrachtet. Erst um dieser Zeit wurde sie von venezianischen Kaufleuten in die Handelstheorie von Kalkulations-Systemen aufgenommen. Tatsächlich war Petrucci oder einer seiner Mitarbeiter, ausgehend von dieser kommerziellen Nutzung der Null, in der Lage, ein neues Notationssystem zu schaffen, das sich in mancher Hinsicht von den bereits bekannten unterschied ("Neapolitanisch", "Französisch", "Deutsch") - vielleicht aus der Motivation heraus, Copyright-Probleme zu vermeiden. Nichtsdestoweniger war die "Neapolitanische Tabulatur" wichtiger und weiter verbreitet als bislang angenommen, und in Süditalien blieb sie lange Zeit im Gebrauch.

Martin Kirnbauer: "possi stampar canto figurado ne intaboladure d'organo et de liuto" Zur Problematik früher Instrumentaltabulaturen
Obwohl Ottaviano Petrucci bereits 1498 ein Privileg für den Duck von "canto figurado ne intaboladure dorgano et de liuto" erhalten hatte, erschien seine erste Tabulatur für Laute erst 1507. Der Beitrag spürt den möglichen Gründen für diese Verzögerung nach, indem er nach dem Kontext und den Voraussetzungen für spezifische instrumentale Aufzeichnungsweisen fragt. Eine besondere Rolle kommt dabei einem mit "COLLVM LVTINE" (in D-Kl 2° Ms. Math. 31) bezeichneten Blatt aus dem späten 15. Jahrhundert zu, der die sogenannte Ältere Deutsche Orgeltabulatur für Lautenisten lesbar macht.

II. BIBLIOGRAPHIE DER NEUERSCHEINUNGEN ZUR HISTORISCHEN MUSIKPRAXIS 1999/2000, ZUSAMMENGESTELLT VON DAGMAR HOFFMANN-AXTHELM, 189-295