Die Groß Geige in der Kunst am Oberrhein

(Urs Graf, Matthias Grünewald, Hans Holbein d. J.)

Veröffentlicht: 05.01.2015     Autor/in: Martina Papiro

Abstract

Seit der Darstellung einer «Groß Geigen» in Virdungs Musica getutscht (Basel 1511) erscheinen größere Streichinstrumente in den Werken der bekanntesten oberrheinischen Maler und Graphiker. Doch jeder integriert sie auf andere Weise in unterschiedliche Bildmedien und Bildgattungen. Wie ist die Gambe jeweils in den Bildkontext eingebettet? Welcher Erkenntnisse zu ihrem kulturellen Kontext lassen sich daraus gewinnen?

Forschungsprojekt

Groß Geigen, Vyolen, Rybeben – Nordalpine Streichinstrumente um 1500 und ihre Praxis

Zitierweise

Martina Papiro, "Die Groß Geige in der Kunst am Oberrhein. (Urs Graf, Matthias Grünewald, Hans Holbein d. J.)". Forschungsportal Schola Cantorum Basiliensis, 2015.
https://www.forschung.schola-cantorum-basiliensis.ch/de/forschung/fruehe-streichinstrumente-2/papiro-gross-geige-ikonographie.html (Abgerufen am TT MM JJJJ)

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Tatsächlich erscheinen seit der Darstellung einer «Groß Geigen» (Abb. 1) in Virdungs Musica getutscht (Basel 1511) größere Streichinstrumente in den Werken der bekanntesten Maler, die am Oberrhein wirkten. Doch jeder Maler integrierte sie auf andere Weise in unterschiedliche Bildmedien und Bildgattungen. So erhält die Groß Geige von Anbeginn vielseitige Bedeutungen und Funktionen. Die Untersuchung ihres jeweiligen Bildkontexts erlaubt Rückschlüsse über ihren Status in der zeitgenössischen Gesellschaft und Musikkultur.

Abb. 2: Urs Graf: Frau mit Säugling und Narr, Feder mit schwarzer Tusche, um 1525.
Basel, Kunstmuseum, Kupferstichkabinett, Signatur: U.X.108. http://sammlungonline.kunstmuseumbasel.ch


In der um 1525 entstandenen Zeichnung karikierte Graf einen Narren, der den erotischen Reizen einer Frau auf den Leim geht (Abb. 2). Unter dem ungleichen Paar platzierte der Künstler sein Monogramm und die Groß Geige. In diesem Kontext entlarvt das Instrument die Frau als liederliche Person, denn Urs Graf spielt mit dieser Anordnung auf die erotische Semantik der Geige an: «geigen», «gīge(n)» lässt sich etymologisch ableiten von «hin und her bewegen», was in diesem Sinne auch den Geschlechtsakt bezeichnen kann; ebenso konnte mit einer «Geige/Gīge» auch eine Prostituierte gemeint sein [11]. Die Selbstironie von Urs Graf kommt durch die Anordnung der Bildelemente pointiert zum Ausdruck: Über sein Monogramm parallelisiert sich der Künstler mit dem närrischen Lüstling. Beide lassen sich gleichermaßen von sinnlichen Reizen verführen. Zudem verhält sich der Streichbogen zum Instrument genauso wie der Schweizerdolch (als Vertreter der Zeichenfeder wie als phallisches Symbol) zum Monogramm: Musizieren und Zeichnen erscheinen als verführerische wie triebgeleitete Tätigkeiten.

Zu beachten ist auch das Medium – eine autonome Künstlerzeichnung. Solche Zeichnungen sind Unikate zur intimen Betrachtung, die Kenner und Liebhaber für ihre Kunstkabinette sammelten [12]. Die Groß Geige figuriert somit auf einem exklusiven Objekt, das für kunstverständige Betrachter bestimmt war.

Abb. 3: Hans Baldung: Hochaltar des Freiburger Münsters.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Hochaltar_des_Freiburger_M%C3%BCnsters#/media/File:Freiburg_Minster_Altar.jpg
Abb. 4: Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, zweite Schauseite. Colmar, Musée Unterlinden.
Foto: Jörgens.mi/Wikimedia (© Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode )

Die Arbeit am Freiburger Hochaltar scheint Hans Baldungs Interesse für die Groß Geige begründet zu haben, denn er ist der nordalpine Künstler, von dem die meisten Gamben-Darstellungen erhalten sind: Er studierte reale, ihm vorliegende Instrumente in mehreren Zeichnungen (heute im sog. Skizzenbuch in Karlsruhe erhalten) und fügte die Groß Geige als Attribut ein in zwei seiner komplexen allegorischen Gemälde [14]. Eines ist die stehende Nackte mit Stimmbuch, Groß Geige und Katze von 1529 (München, Alte Pinakothek), das andere Gemälde zeigt drei stehende Frauen mit einem (Stimm?-)Buch und einer Laute, drei sitzende Putti mit Notenbuch und einem Schwan sowie eine Groß Geige, um 1541–44 entstanden [15] (Madrid, Prado). Beide haben jeweils ein kontrastierendes Pendant. Und beide Male erscheint die Groß Geige auf der Seite des ‘schönen’, ‘harmonischen’ Pendants, was sich sowohl über die Gestaltung der Akte junger Frauen vermittelt wie auch über das Instrument selbst als Sinnbild der musikalischen Harmonie [16]. Baldung setzt die Groß Geige ähnlich wie Urs Graf im Bildvordergrund als Blickfänger ein, doch ist das Instrument nun positiv besetzt, da die Bezugsfigur keine liederliche Frau, sondern idealtypische Nymphen, Grazien oder Musen sind. Ähnlich ist auch das Zielpublikum dieser Werke: Baldungs Auftraggeber und Kunden gehörten zur gebildeten Oberschicht, genauso wie die Käufer der Künstlerzeichnungen von Urs Graf [17].

Der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald, dessen Programmatik und Ikonographie zahlreiche Innovationen bieten, hat schon früh seine Betrachter durch seine Inhalte und Malweise fasziniert; dies umso stärker, als Grünewalds Manier am Oberrhein nicht bekannt war [18]. Auch das Engelskonzert, das die Muttergottes und die Menschwerdung Christi lobpreist, gehört zu den ikonographischen Innovationen des Altars (Abb. 5). Die drei Engel mit Streichinstrumenten sind Blickfänger, die wichtige Funktionen erfüllen: sie vermitteln zwischen den Bildebenen (visuell), den Bildfiguren (inhaltlich) und deren Bedeutung (symbolisch). Besonders deutlich wird dies beim Engel mit Groß Geige: Als himmlisches, immaterielles Wesen ist er Teil einer Vision, aber er tritt in den Bildvordergrund, also in die irdische Sphäre vor und musiziert auf einem betont materiellen Artefakt. Er bringt himmlische Klänge auf einem irdischen Körper hervor, deren Ambivalenz nicht zuletzt durch die vergoldeten Streichbogen und Wirbelkasten zum Ausdruck kommt [19]. Dass die Auswahl der Attribute für die Engel auf Groß Geigen bzw. exklusiv auf Streichinstrumente fiel, kommt einem Statement gleich. Denn sie offenbart nicht nur den Wunsch, durch die Präsentation neuartiger Instrumente Neugier zu erwecken (man darf nicht vergessen, dass die Streichinstrumentenfamilien gerade in Entwicklung begriffen und dass sie damals ikonographisch noch sehr selten sind), sondern auch denjenigen, durch diese modernen Streicher so aktuell und gegenwärtig wie möglich zu sein. Wie das Freiburger Münster hatte auch die Isenheimer Hospitalkirche überregionale Bedeutung und eine relativ hohe Besucherfrequenz. Die Hochaltäre waren insofern auch Prestige-Objekte, mit denen sich die Auftraggeber profilierten [20].

Eine überregionale, gar europaweite Bedeutung und Ausstrahlung hatte auch die Basler Buchillustration. Hier, im druckgraphischen Medium, finden sich ab 1520 auch größere Streichinstrumente, und zwar in den Entwürfen von Hans Holbein dem Jüngeren (1497–1543). Dabei handelt es sich um Initialen und Titeleinfassungen, meist mit mythologischem Thema: Mal ist es ein Putto [21] (Abb. 6), mal eine Muse [22] (Abb. 7a-b) und mehrfach ist es Orpheus [23] (Abb. 8), dem ein Streichinstrument beigefügt ist. Solche Darstellungen sind sehr klein – eine Initiale misst zwischen 1,5 und 5 cm Höhe –, daher geht es hier nicht um organologische Details, sondern um den Kontext, in dem diese Instrumente erscheinen.

Abb. 7a: Iacob Faber nach Hans Holbein d. J: Titeleinfassung mit Dichterweihe Homers und den Musen, in: Geographicorum libri XVII […], Basel: Valentin Curio 1523.
Basel, Universitätsbibliothek, Signatur: Frey-Gryn L II, 11:2
Abb. 7b: Detail Clio mit Streichinstrument
Abb. 8: Anonym nach Hans Holbein d. J.: E-Initiale: Orpheus mit Musikinstrumenten und Hirschkuh, in: Graduale Speciale noviter impressum […], Basel: Thomas Wolff 1521, S. CXLIIII.
Basel, Universitätsbibliothek, Signatur: AN VIII 13


In Basel entstehen anspruchsvollen Editionen der antiken griechischen und hebräischen Texte; Humanisten und Theologen wie Erasmus von Rotterdam sowie verschiedene Reformatoren lassen ihre Schriften in Basel drucken [24]. Für diese Drucke entwerfen bedeutende Graphiker eigens Titeleinfassungen, Initialen und Zierleisten [25]. Dabei orientieren sich an der Kunst der italienischen Renaissance und der römischen Antike. So entsteht ein neues, modernes Bildrepertoire, das dem humanistischen Zeitgeist entspricht. Da die Basler Drucke in ganz Europa zirkulierten, wurden quasi beiläufig die nordalpinen Varianten der grösseren Streichinstrumente ikonographisch verbreitet. Denn die nordalpinen Graphiker rezipieren zwar die italienischen Drucke, aber die Gestalt der modernen Streichinstrumente passen sie den nordalpinen Formen an. So findet sich z. B. kaum je eine Lira da braccio in der deutschen Druckgraphik.

[1]

Brief von Hans Ludwig Ammann an Huldrich Zwingli vom 7.10.1528, s. Ammann 1528. Ausführlicher zur Bedeutung dieser Quelle für das Spiel der Groß Geige in Papiro 2018.

[2]

Ammann 1528.

[3]

Für Zwinglis Bezug zur Musik vgl. Reimann 1960.

[4]

Eine ausgearbeitete Version dieses Beitrags findet sich in Papiro 2019.

[5]

Zu Sebastian Virdung vgl. Kirnbauer 2011, 53–56, und dort die weiterführende Bibliographie.

[6]

Ebd., 63.

[7]

Hieronymus 1984, Bd. 2, VI. Die Bordüren um den Lautenspieler-Holzschnitt hatte Furter z. B. bereits für Drucke von ca. 1495 verwendet, s. ebd., 47. Stilistische Unterschiede zwischen den Abbildungen zu den aktuellen Musikinstrumenten und den Instrumenta Hieronimi in der Musica getutscht könnten auf unterschiedliche Vorlagen wie auf verschiedene Formschneider hinweisen.

[8]

Hieronymus 1984, Bd. 2, VI.

[9]

Andersson [o. J]. 1511 hielt sich Graf in Basel auf und war dort für mehrere für Drucker tätig.

[10]

Urs Graf: Neun schwebende Putten mit Objekten. Feder mit schwarzbrauner Tusche, 102 x 292 mm, um 1513–1515. Basel, Kunstmuseum, Kupferstichkabinett, Signatur U.X.119. Urs Graf: Frau mit Säugling und Narr. Feder mit schwarzer Tusche, 186 x 148 mm, um 1525. Basel, Kunstmuseum, Kupferstichkabinett, Signatur U.X.108. Vgl. Müller 2001, 128 und 233.

[11]

Schweizerisches Idiotikon II, Sp. 149-151 (Stichworte: geiglen, gigen, Gige). Zitiert nach Andersson 1978, 68 und Fußnote 95.

[12]

Für Urs Grafs Zeichnungen und die Kunstsammler vgl. Müller 2001, 67.

[13]

Zum Freiburger Hochaltar von Hans Baldung Grien vgl. den Ausstellungskatalog Hans Baldung Grien in Freiburg, Freiburg i. B.: Rombach 2001; zum Isenheimer Altar vgl. Béguerie-De Paepe 2007.

[14]

Vgl. Söll 2019; Salmen 2001; Salmen 2010; Mende 1978; von der Osten 1983.

[15]

Vgl. von der Osten 1983, Kat. 66 und Kat. 176a-b.

[16]

Zu den verschiedenen Interpretationen vgl. von der Osten 1983, Kat. 66 und 176a-b; Mertens 1994, 288–291 und Söll 2019. Zu den Aktdarstellungen Baldungs vgl. Talbot 1981.

[17]

Söll 2010, 23–30, besonders 27.

[18]

Für die originale Aufstellung, liturgische Einbindung und Rezeption des Isenheimer Altars vgl. Béguerie-De Paepe 2007, 12–15.

[19]

Vgl. einführend Hoffmann-Axthelm 2007.

[20]

Zum Auftraggeber des Isenheimer Altars s. Clementz 2007. Für die Auftraggeber des Freiburger Hochaltars s. Söll 2010, 173–175.

[21]

Anonym nach Hans Holbein d. J.: A-Initiale: Putti mit Musikinstrumenten, Metallschnitt, 48 x 48 mm. Erstverwendung (?) in: Strabo u. a. Geographicorum libri XVII […], Basel: Valentin Curio, März 1523, 271. Vgl. Falk 1989, Nr. 122 (dort auf Frühjahr 1520 datiert).

[22]

Iacob Faber nach Hans Holbein d. J.: Titeleinfassung aus vier Leisten, Metallschnitt. Untere Leiste: Dichterweihe Homers mit den neun Musen, 78 x 189 mm. Erstverwendung in: Strabo u. a., Geographicorum libri XVII […], Basel: Valentin Curio, März 1523. Vgl. Hieronymus 1984, Nr. 419.

[23]

Anonym nach Hans Holbein d. J.: E-Initiale: Orpheus mit Musikinstrumenten und Hirschkuh. Metallschnitt, 66 x 54 mm. Erstverwendung in: Graduale Speciale noviter impressum […], Basel: Thomas Wolff 1521, S. CXLIIII. Vgl. Hieronymus 1984, Nr. 364.

[24]

Vgl. einführend Christ/Große/Hamm 2014.

[25]

Vgl. einführend Hieronymus 1984a; Muller 2006.

[26]

Vgl. Hirsch 2015.

[27]

Eine inzwischen verschollene Tischplatte aus der Werkstatt von Hans Baldung, die 1530 für den Strassburger Ammeister Martin Herlin-Sebolt entstand, zeigt u. a. eine Tanzpaar, das von einem Lautenisten und einer Gambistin begleitet wird. Siehe von der Osten 1983, Kat. WV 104.