Ina Lohr – Seele der Schola Cantorum Basiliensis

Veröffentlicht: 05.09.2016     Autor/in: Anne Smith

Abstract

Dieser Vortrag – gehalten am 28.03.2015 im Rahmen der Jahresfeier der Musik-Akademie Basel – bespricht Ina Lohrs eigenen Bildungsweg und wie er die Strukturen und Inhalte der Schola Cantorum Basiliensis prägte.

Forschungsprojekt

Ina Lohr (1903–1983)

Zitierweise

Anne Smith, "Ina Lohr – Seele der Schola Cantorum Basiliensis". Forschungsportal Schola Cantorum Basiliensis, 2016.
https://www.forschung.schola-cantorum-basiliensis.ch/de/forschung/ina-lohr-project/smith-lohr-seele-der-schola.html (Abgerufen am TT MM JJJJ)

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Ich freue mich, im Rahmen der diesjährigen Jahresfeier der Musik-Akademie Basel über eine der wichtigsten Figuren in der Entstehung der Schola Cantorum Basiliensis zu reden – Ina Lohr [Abbildung: Ina Lohr, ca. 1936. Foto: Aleid und Floris Zuidema] – und dies sogar in einem ihr gewidmeten Raum, dem Lohr-Wenziger Studio der Bibliothek der Musik-Akademie Basel. Seit drei Jahren arbeite ich an einem Projekt über sie und ihr Wirken in der Alte Musik-Bewegung, seit September mit der Unterstützung des SNF. Heute möchte ich über meine neuesten Erkenntnisse reflektieren und werde über Ina Lohrs Bildungsweg sprechen und wie er die Strukturen und den Inhalt der Schola prägte.

Ina Lohr ist 1903 als zweite von drei Töchtern von Henriëtte Antoinette (Jet) Resink (1876–1945) und Herman Lohr (1871–1948) in Amsterdam zur Welt gekommen. Die ernsthafte Schönheit im Ausdruck der Familienmitglieder, vor dem Flügel gruppiert, gibt eine Vorstellung von der Wichtigkeit der Musik und überhaupt der Kunst für die Familie Lohr [Abbildung: Etty, Heriette, Ina, Sally und Herman Lohr, 12. Januar 1913. Foto: Aleid und Floris Zuidema]. Ina Lohr selber hatte als Kind immer viel gesungen und auch im Gymnasium in Arnhem die Musik gepflegt.

Wenn man Ina Lohrs Hintergrund sowie die allumfassende Natur ihrer Bildung in Musik, Kunst und Literatur bedenkt, ist es nicht erstaunlich, dass sie das neue, progressive Muziek-Lyceum in Amsterdam besuchte, das 1921 eröffnet wurde. Der erste Prospekt dieser Institution ist ein wahres Bildungsmanifest [Foto: Staatsarchief Amsterdam, 1079/56]. Da die dahinterstehende Ideologie Inas Zugang zur Musik stark beeinflusste, wollen wir diese zunächst näher anschauen. Der Gründungsverein hatte sich zur Aufgabe gesetzt, nicht nur gute Musiker, sondern auch ein musikalisch gut entwickeltes Publikum zu bilden, und dieses Ziel zu erreichen, indem er von Prinzipien ausging, die auf eine harmonische Verbindung zwischen technischer Bildung und innerlicher Entwicklung gerichtet sind [1]:

  1. [Diese Prinzipien] sollen in jeder Hinsicht den Forderungen einer ernsthaften musikalischen Praxis Rechnung tragen, die ganz nach innen gerichtet ist. Unsere Haltung sieht die technische und musiktheoretische Bildung des zukünftigen Musikers als etwas, was ohne Zweifel notwendig ist, wie auch guter Unterricht im Spiel eines Instrumentes für einen begabten Liebhaber, und will keines von beidem in irgend einer Weise vernachlässigen: Aber vor allem will sie ihre Aufmerksamkeit auf die geistige und ästhetische Bildung als Basis für eine künstlerische Entwicklung richten; das eine wie das andere in direkter Verbindung zur natürlichen Begabung und den geistigen Bedürfnissen eines jeden einzelnen Individuums [2].


Angesichts der heutigen Betonung auf den hohen Anforderungen für das Überleben im Musikbusiness, mögen diese Konzepte den Anschein geben, irgendwo zwischen unrealistischem Purismus und vagem Idealismus zu liegen. Auch die offene Äusserung solcher quasi-religiösen Werte wirkt etwas befremdend im Kontext unserer momentanen pädagogischen Strömungen, in denen die Akquisition von "Kompetenzen" so häufig betont wird.

Es ging aber nicht nur um die Musikbildung an und für sich, sondern um die vollständige Entwicklung derjenigen, die zukünftig im Fach Musik tätig sein würden, wie der letzte Abschnitt des Musik-Lyceum-Prospekts über "Religion und Philosophie" offenbart. Darin wird das 19. Jahrhundert als eine Zeit gesehen, die dermassen auf eine präzise Wahrnehmung der Wirklichkeit gerichtet war, dass diese "Leidenschaft für Realität" die Künste und Wissenschaften eroberte. Weiter heisst es:

  1. Aber jetzt erkennen wir wieder, dass menschliches Bewusstsein nur menschlich ist, wenn es durch ganzheitliches Denken geweiht und vertieft wurde. Jetzt erkennen wir wieder, dass es dem Menschen nichts nützt die Welt zu entdecken, wenn er nicht auch sich selbst durch die Vielfalt der Welt im zentralen, kosmischen Sinn entdeckt. Der sokratische Ruf nach Selbstbesinnung erschallt wieder mit neuer Klarheit und Kraft durch das einsame Denken. Der Ruf ist nicht ohne Gefahr. Wenn vom Berufsstudium nicht mehr gesagt werden kann, das allein Seligmachende zu sein, dann droht sich der kräftige Realitätssinn, den wir vom 19. Jahrhundert erhalten haben, wieder in ungesunden Dilettantismus zu verflüchtigen. Es ist darum in Wirklichkeit ein geistiges "Verlangen unserer Zeit" die täglichen Fachstudien mit philosophischer und religiöser Besinnung zu verbinden, und dies so yu tun, dass es nicht neben den Fachstudien bleibt, sondern als "zentrales Bewusstsein" sämtliche Fachstudien durchdringt, vertieft und reinigt.


Diese Zentralisierung wird natürlich erst an Institutionen für Kunstunterricht möglich sein. Während dem ein naturwissenschaftliches Fach noch "praktischen Nutzen" [auch] ohne ganzheitliche Lebensbesinnung hat, verkommt ein künstlerisches Fach ohne diese Lebensbesinnung zu einer gymnastischen Übung, die nur eine seelenlose Fähigkeit ergibt, ohne praktischen Nutzen noch lebendige Schönheit [3].


Das Muziek-Lyceum sah sich also als eine Institution an der Spitze der Bildungs- und Geistesreform, war höchst idealistisch und schaffte neue pädagogischen Strukturen, um seine Ziele zu erreichen. Es überrascht nicht, das es während vieler Jahre eine private Initiative blieb, die mit Spenden für diejenigen rechnete, welche die Gebühren nicht bezahlen konnten. Es vermochte sich aber schnell einen einflussreichen Platz in der Amsterdamer Musikwelt zu schaffen, vor allem wegen der hohen Qualität seiner Lehrkräfte, die häufig auch Mitglieder des Concertgebouw Orchester waren.

Hier sieht man sie auf der rechten Seite mit ihrer jüngeren Schwester Sally Lohr im Gymnasium-Alter [Foto: Aleid und Floris Zuidema]. Am Gymnasium entdeckte sie die Literatur von vier Sprachen – ich nehme an Deutsch, Französisch und Englisch, sowie Holländisch, die sie alle beherrschte. Und abends und sonntags las der Vater, Herman Lohr, den Kindern vor, die alle um den Kamin in eigens für sie gebauten niedrigen Stühlen sassen. Auch wurde ihnen beigebracht Bilder und andere Kunstwerke anzuschauen. Da Arnhem so nah an Amsterdam liegt, konnten sie dort häufig Konzerte und Kunstausstellungen besuchen. In ihrer autobiographischen Skizze schreibt Ina Lohr, dass sie und ihre Geschwister eine "reich befrachtete, sehr schöne Jugend [hatten], die unser Leben bestimmt hat":

Aber schon seit 1934 gaben wir auch Konzerte in passenden Räumen, sogar im Kreuzgang vom Münster. Die Leitung hatte dann August Wenzinger, der vor dem ersten Konzert die These vorlegte, man könne nicht im Frack Blockflöte spielen, die Damen auch nicht im Abendrock. [Die Abbildung zeigt August Wenzinger, Ina Lohr und Valerie Kägi. Foto: R. Jeck] Einverstanden waren alle. Wir spielten also im Sonntagsgewand und fühlten uns wohl dabei. Wir hatten aber Erfolg [mit Betonung oder Überraschung in der Stimme] und das änderte diese angenehme Situation. Schon [nach] einem Jahr wurden wir für ein richtiges Konzert nach Zürich eingeladen in ein wunderschönes altes Zunfthaus. Da wurde dann aber Konzerttenue vorgeschrieben. Auch durften [wir] nicht wie bisher die verschiedenen Werke mit einigen Erklärungen einleiten. Es sollte einfach ein festliches Konzert sein. Für mich änderte sich an dem Abend alles im Bezug auf unser Musizieren in der Öffentlichkeit. Die Leistung stand plötzlich im Vordergrund und mir fehlte die Freude am solistischen Auftreten. Auch war meine wöchentliche Stundenzahl so sehr gestiegen, dass ich mir den Konzertbetrieb gar nicht leisten konnte. Es entstand also eine Konzertgruppe der Schola Cantorum Basiliensis, in der ich nicht mitspielte. Damit war der Anfang für eine gewisse Teilung gemacht. Die Konzertgruppe vertrat die Schola Cantorum Basiliensis im Ausland. In Basel stieg die Schülerzahl [6].


Interessant hier ist die Teilung der Aktivitäten in und für die Schule und es lässt sich auch die sichere Führung Paul Sachers ablesen, der zwischen den starken Persönlichkeiten der Dozierenden immer einen fruchtbaren Weg hat finden können. Die Konzentration auf Unterricht und Konzert erfolgte eventuell auch aus praktischen Gründen. Wie schon Wulf Arlt in seinem aufschlussreichen Artikel über die Gründung der Schola hervorhob, galt 1939 "ein starkes Anwachsen der Schülerzahl und der Besucherzahl in den Konzerten" als die natürlichste Lösung der finanziellen Probleme [7].

Doch wenn man dies mit den tatsächlich gelebten Strukturen der ersten 30 Jahre vergleicht, sieht es ganz anders aus. Schon bald nach der Gründung der Schola [Auf dem Foto sieht man August Wenzinger und Paul Sacher im Seidenhof am Blumenrain, der die SCB ab 1935 beherbergte. Foto: Spring] in 1933 gab es eine de facto Konzentration auf zwei Aspekte des Programms: auf den Unterricht und das Konzert. Von Anfang an nahm August Wenzinger die Konzertaktivitäten unter seine Fittiche, was sich in der Gründung der Konzertgruppe niederschlug; sein Interesse galt der Professionalisierung der Alten Musik, natürlich unter Berücksichtigung der theoretischen sowie praktischen Quellen. Obwohl Ina Lohr am Anfang bei den Konzerten mitwirkte, wurde es ihr bald zu ungemütlich. 1980 sprach sie darüber in einer selbstgemachten Aufnahme zur Geschichte der Schola:

Ina Lohr spricht über die Geschichte der Schola, 1980; Basel, Paul Sacher Stiftung, Sammlung Ina Lohr, CD 4.

Wie dem auch sei, 1936 entschied sich Ina Lohr, ihre Haupttätigkeit an der SCB auf den Unterricht einzugrenzen, und es ist hier, dass wir die indirekten Einflüsse ihrer holländischen Bildung bemerken können. Um die verschiedenen Ziele des Muziek-Lyceums zu erreichen, wurden von Anfang an drei Abteilungen oder Ebenen eingerichtet, eine für Kinder, eine für Berufsstudierende und eine für erwachsene Laien. In allen Abteilungen gab es entsprechende theoretische Fächer, gemäss den Bedürfnissen der verschiedenen Gruppen. In der Berufsabteilung wurden sämtliche theoretische Fächer – Harmonielehre, Gehörbildung und Komposition – von einer einzelnen Person, Anthon van der Horst, vermittelt, wobei er kleine Gruppen von ungefähr sechs Personen unterrichtete. [Die Abbildung zeigt Anthon van der Horst in einer Theorieklasse, ca. 1930. Foto: Gert Oost, Anton van der Horst 1899–1965: Leven en werken, Alphen aan den Rijn: Canaletto 1992.]

Diese Strukturen wurden dann von Ina Lohr für die Schola einfach übernommen, sie hatte ja nichts anderes gekannt. Auch sie zog es vor, auf der Berufsebene Theorie in Kleingruppen zu unterrichten, da sie dann sofort die Brücke zur Praxis schlagen konnte, indem sie das, was sie gerade theoretisch besprochen hatte, in die Praxis umsetzen konnte. Und auch sie war zuständig für sämtliche theoretische Fächer. [Die Abbildung zeigt Ina Lohr in ihrem Büro. Foto: Aleid und Floris Zuidema]

[1]

"Zij stelt zich tot taak, zoowel goede toonkunstenaars als een muzikaal ontwikkeld publiek te vormen, en wil dit doel bereiken, door uit te gaan van beginselen, die gericht zijn op een harmonisch verband tusschen technische vorming en innerlijke ontwikkeling." Muziek-Lyceum, Prospekt, 1921, S. 4, Staatsarchief Amsterdam, 1079/56.

[2]

"die in alle opzichten rekening houden met de eischen van een ernstige muziekbeoefening welke geheel op het innerlijk is gericht. Onze instelling beschauwt de technische en muziek-theoretische vorming van den aanstaanden toonkunstenaar zeker alz iets noodzakelijks, evenals goed onderwijs in de beoefening van een instrument voor den begaafden dilettant, en wil noch het eene, noch het andere, in welk opzicht ook, verwaarloozen: doch vóór alles wil zij het oog gericht houden op de geestelijke en aesthetische vorming, als basis voor een artistieke ontwikkeling: één en ander in onmiddelijk verband met de natuurlijke begaafdheid en de geestelijke behoeften van ieder individu afzonderlijk." Ebd., S. 10.

[3]

"Maar thans gaan wij toch weer beseffen, dat het menschelijk bewustzijn eerst vòlmenschelijk is, als het gewijd wordt en verdiept in synthetische gedachten. Thans gaan we weer beseffen, dat het den mensch niet baat, de wereld te ontdekken, tenyij hij met de veelheid der wereld ook zichzelf ontdekt in centraal-kosmisch inzicht. De Socratische roep om zelfbezinning woedt weer met nieuwe duidelijkheid en nieuwe kracht door de vereenzaamde gedachten. Zonder gevaar is die roepstem niet. Als de vakstudie niet meer het alleen zaligmakende mag heeten, dreigt het krachtige werkelijkheidsbesef, dat we van de 19de eeuw als kostbare erfenis ontvingen, weer te vervluchtigen in ongezond dilettantisme. 't Is daarom in alle waarheid een geestelijke "eisch van onzen tijd" degelikjke vakstudie te verbinden met wijsgeerige en religieuze bezinning, en wel zóó, dat deze niet naast de vakstudie blijft, maar als "centralieteit van bewustzijn" alle vakstudie doordringt, verdiept en verpuurt.

Deze centraliseering zal uiteraard het eerst mogelijk zijn bij inrichtingen voor kunstonderwijs. Heeft een weteschappelijk vak nog "praktisch nut" buiten alle levensbezinning om, een kunstvak ontaardt buiten die levensbezinning tot een gymnastiek, die maar ziellooze vaardigheid geeft, zoowel zonder practisch nut als zonder levende schoonheid." Ebd., S. 39.

[4]

Arlt 1977, 45–46. 

[5]

Ebd., S. 47.

[6]

Selbstgemachte Kassette über die Entstehung der Schola Cantorum Basiliensis, 1980, Basel, Paul Sacher Stiftung, IL CD 4. Transkription der Autorin.

[7]

Arlt 1977, 63–64.

[8]

Lohr 1981.

[9]

Lohr 1951, 18.

[10]

"Soms is het erg moeilijk ongeduldig te blijven met mijn collega's , die nog steeds het meeste gewicht op virtuositeit leggen. Musiceerend menschen moeten we vormen: menschen, die met muziek en door de muziek iets voor hun medemenschen kunnen zijn en doen. Is dat dan werkelijk zoo'n dwaas idee?" Tagebuch von Ina Lohr, 25. April 1945. Paul Sacher Stiftung, Sammlung Ina Lohr (fortan: PSS-IL).

[11]

Lohr 1981.

[12]

Brief Ina Lohr an Ernst Gaugler vom 2. Januar 1941. PSS-IL.

[13]

Brief Ernst Gaugler an Ina Lohr vom 29. April 1940. PSS-IL.

[14]

Brief Ina Lohr an Ernst Gaugler vom 5. Mai 1940. PSS-IL.

[15]

Arlt 1977, 83.

[16]

Stephenson 2001, 124.